×

Der besondere, runde Geburtstag des Uhrmachers

Max Fiebiger vom damaligen gleichnamigen Uhrengeschäft in Chur hat seinen 100. Geburtstag gefeiert – ein Besuch bei einem waschechten Churer Altstädter.

Bündner Woche
23.06.23 - 04:30 Uhr
Menschen & Schicksale
Uhrmacher mit Leib und Seele: Der Churer Max Fiebiger hat vor kurzem seinen 100. Geburtstag gefeiert.
Uhrmacher mit Leib und Seele: Der Churer Max Fiebiger hat vor kurzem seinen 100. Geburtstag gefeiert.
Bild Susanne Turra

von Susanne Turra

Sie nennen ihn Grandy. Er ist ein Jahrhundert alt. War ein halbes Jahrhundert lang Uhrmacher. Und ist in der Churer Altstadt geboren. An der Oberen Gasse 16, Ecke Herrengasse, im ersten Stock. Genau genommen eigentlich an der Oberen Gasse 262. Denn damals wurden die Häuser einfach durchnummeriert. Unabhängig von den Strassen und Gassen, an welchen sie lagen. Wie auch immer. Es ist dort, wo er später seine Bude hat, wie er gleich selber erzählt, an jenem Montagnachmittag im Juni in Chur. Max Fiebiger. Sein 100. Geburtstag ist vorüber. «Gott sei Dank», so der Jubilar. Es sei schon anstrengend, so viele Glückwünsche entgegenzunehmen, immer das Gleiche zu hören und immer das Gleiche antworten zu müssen, meint er und lacht. Seine Augen blicken schelmisch hinter der Brille hervor. Er trägt ein hellblaues Hemd und dunkelblaue Hosen. So wie es sich für einen Geschäftsmann gehört. Und, er brauche jetzt diesen Wagen hier, sagt er und zeigt auf seinen Rollator. Seinen Cadillac, wie er ihn nennt.

Fünf Jahre staatenlos

«Es ist schön, dass Sie sich dafür interessieren, was ich gemacht habe in Chur», sagt Max Fiebiger und setzt sich an den Tisch. Er offeriert ein Schweppes Bitter Lemon. Und erzählt. Vor sich ein dicker, hellgrauer Ordner. Ein Lebensordner. Wer den gemacht habe, wisse er nicht mehr. Wir öffnen den Ordner. Und sehen das erste Bild. Ein Foto in jener unvergleichlichen Sepia-Qualität von damals. 1890 in New York. Die Lebensgeschichte beginnt. Und das nicht in Chur? Max Fiebiger winkt ab. Das Uhren- und Bijouteriegeschäft «Bücheli» wird von seinem Grossonkel Jakob Bücheli am 1. Juli 1889 an der Oberen Gasse 16 in Chur gegründet. Ein Jahr später wandern Max Fiebigers Grosseltern, Max Emil Fiebiger und Margarethe, geborene Bücheli, nach New York aus. Dort geschäften sie erstmals unter dem Namen «Fiebiger». «Ich habe sie nicht persönlich gekannt», erzählt er. Sein Vater, Eugen Fiebiger, kommt 1890 in New York zur Welt und siedelt später wieder nach Chur über. «Wir waren fünf Jahre staatenlos», erinnert sich der Senior. «Auf dem amerikanischen Konsulat haben sie die Schriften verloren.»

1928 werden die Fiebigers eingebürgert. Das Uhrengeschäft «Bücheli» wird zum Uhrengeschäft «Fiebiger». Dazu gehört auch das gleichnamige Hutgeschäft. Dieses wird später von Max Fiebigers Bruder, Eugen Fiebiger, geführt. «Das hat gut funktioniert», so Max Fiebiger. «Wir hatten im Haus einen offenen Durchgang von einem Geschäft zum andern.»

Jeden Pflasterstein gekannt

Das Geschäft bleibt bis zum Schluss am selben Standort. In der Altstadt. Und so ist auch Max Fiebiger ein waschechter Altstädter. «Die Altstadt war meine Heimat», betont er denn auch. «Dort habe ich jede Gasse, jede Ecke und jeden Pflasterstein gekannt.» 1933, als Max Fiebiger zehn Jahre alt ist, wird das Geschäft umgebaut. Fortan ist der Eingang direkt in der Ecke integriert. Mitte der Sechzigerjahre übernimmt Max Fiebiger das Geschäft. Zusammen mit seiner Frau Anny. Sie bekommen drei Töchter. Bettina, Rita und Herta. Und einen Sohn, Max Peter. «Unser Sohn wurde als Siebenjähriger überfahren», erzählt Max Fiebiger mit gesenktem Kopf. Es schmerzt ihn bis heute.

Er zeigt auf die gerahmten Fotos mit allen seinen Lieben auf seinem Tisch. Die Töchter leben heute in Laupen, Grabs und Neuseeland. Dort, am andern Ende der Welt, ist er genau 30 Mal bei seiner Tochter Herta gewesen. Jeweils zwei Monate lang. Das letzte Mal mit 90 Jahren. «Das waren schöne Zeiten», schwärmt er. «Die Farmarbeit hat mir gefallen.» Und auch seine Arbeit im Geschäft als Uhrmacher gefällt ihm. Dabei erlebt er einiges. So erwischt er gar einmal einen Uhrmacherlehrling in flagranti beim Einbrechen. «Er wurde verhaftet. Dieser ‹Glünggi›», betont er in breitem Churerdeutsch und lacht.

Viele Erinnerungen: Max Fiebiger öffnet seinen grauen Ordner und blickt zurück.
Viele Erinnerungen: Max Fiebiger öffnet seinen grauen Ordner und blickt zurück.
Bild Susanne Turra
Bild Susanne Turra
Bild Susanne Turra

Und die Uhren? Diesen verschreibt sich der Uhrmachermeister zeitlebens. Churer Laternenuhren. Davoser Holzräderuhren. Sonnenuhren. Schwarzwälderuhren. Max Fiebiger repariert, restauriert und erneuert sie alle. Er ist darauf spezialisiert. Und zur damaligen Zeit nur einer von zwei Spezialisten in der Schweiz, die solche Uhren flicken können. Die Zifferblätter malt er jeweils selber. Er hat ein gutes Auge für Farben. «Die Leute haben mir manchmal eine Schachtel mit allen möglichen Teilen gebracht», erinnert er sich und lacht. «Da musste ich dann alles wieder zusammenbauen. Oder kaputte Sachen und vermurkste Schrauben in Ordnung bringen.»

Und dann, am 18. August 1990, ist Schluss. Die Fiebigers geben das Geschäft auf und treten in den Ruhestand. «Ich war 70 Jahre lang mit Anny verheiratet», erzählt Max Fiebiger und zeigt auf das Bild an der Wand. «Vor fünf Jahren ist sie 90-jährig gestorben.» Seine Gedanken gehen weit zurück. «Anny hat die Lehre damals bei Frau Hatz in der Bijouterie an der Oberen Gasse gemacht», erzählt er. «Wir standen quasi in Konkurrenz zueinander.» Es kommt, wie es kommen muss. Der Chefin gefällt es ganz und gar nicht, dass ihre Lehrtochter mit Max Fiebiger etwas anfängt. Und sie stellt das Ultimatum: der Fiebiger oder die Lehre. «Da hat Anny die Lehre abgebrochen und sich für mich entschieden», sagt der Uhrmacher und schmunzelt.

Kunstturner und Fussgänger

Doch, wie wird man eigentlich 100 Jahre alt? «Ich war Kunstturner beim Bürgerturnverein BTV in Chur», betont Max Fiebiger. «Deshalb bin ich so alt geworden.» Er sei sicher, das habe ihm geholfen. Und wieder blickt er weit zurück. Blättert in einem kleinen Album mit Erinnerungen. «Das mit den Ringen war eine heikle Sache», betont er. «Ich habe die nötige Kraft nicht gehabt. Aber am Reck ist es gut gegangen. Und auch am Boden. Dort war ich sehr gut. Die andern sind am Boden immer nur Zweite geworden.» Er lacht.

Und auch das mit dem Rauchen lässt der 100-Jährige schön bleiben, wie er verrät. «In der Rekrutenschule haben sie mir Zigaretten offeriert», erzählt Max Fiebiger. «Aber ich finde, die Lunge hat man, zum Luft aufnehmen und nicht zum Rauchhineinpumpen.» Gleichzeitig ist er ein begeisterter Skifahrer und Wanderer. Mit dem «Alpenclub Bergblüemli» erklimmt er viele Gipfel. Und er ist ein Fussgänger. Fährt zeitlebens kein Auto. «Dafür habe ich jetzt einen Cadillac», sagt er und zeigt auf seinen Rollator.

Daran gibt es nichts zu rütteln

Seit dem 16. Dezember wohnt Max Fiebiger im Seniorenzentrum «Cadonau». So richtig zu Hause fühlt er sich hier aber nicht mehr. Wenn er zum Fenster hinausblickt, sieht er in weiter Ferne die Gegend um den St. Antönienweg. Dort, wo er Jahrzehnte gelebt hat. Max Fiebiger schaut auf die Uhr. Exakt um 17 Uhr gibt es Nachtessen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wir schliessen den Ordner.

«Ah, das kommt in die Zeitung. Achtung, bei meiner Geschichte kann man immer etwas durcheinanderbringen», mahnt er noch. Die Journalistin nimmt sich das zu Herzen. Dann steht Max Fiebiger auf, dreht sich um und rollt mit seinem Cadillac davon.

Inhalt von buew logo
Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.

Wunderschönen Erzählung, würde mich gerne persönlich mit Herrn Fiebiger unterhalten. Ich glaube von der älteren Generation kann man sehr viel lernen…

Mehr zu Menschen & Schicksale MEHR