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Der Grat zwischen Schutz und Nutzung der Alpen ist schmal

Friede, Freude, Alpenwiese gilt schon länger nicht mehr. Die Alpen im Glarnerland, besonders in Glarus Süd, stehen unter Druck. Das hat nicht nur mit der Ausbreitung des Wolfs zu tun.

Sara
Good
29.01.23 - 16:56 Uhr
Wirtschaft
Die Alp Bösbächi in Luchsingen ist eine der 63 Alpen in Glarus Süd.
Die Alp Bösbächi in Luchsingen ist eine der 63 Alpen in Glarus Süd.
Bild Gian Ehrenzeller/Keystone

Ruhig und tief verschneit zeigt sich die Glarner Bergwelt momentan. Doch die Idylle auf den malerischen Alpen trügt. Seit sich die Wölfe im Glarnerland ausbreiten, spitzen sich die Konflikte rund um die Alpwirtschaft zu. Die Frage um die Daseinsberechtigung wurde neu entfacht, besonders in der Gemeinde Glarus Süd, wo im letzten Jahr die meisten Nutztiere gerissen wurden. In diesem Zusammenhang wird oftmals die Koexistenz zum gemeinsamen Ziel ernannt, doch ein gangbarer Mittelweg wurde bis jetzt nicht gefunden.

Glarus Süd ist flächenmässig die zweitgrösste politische Gemeinde der Schweiz und verzeichnet auf ihrem Gebiet 63 Alpen, 40 davon in ihrem Besitz. Die Alpen dienen als Weide, Touristendestination oder Heimat der Wildtiere. Und nicht zuletzt ist die Alp ein gemeinsames Gut der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die einen erheblichen Beitrag an die Infrastruktur beisteuern. Die verschiedenen Gruppen haben – zum Teil gegensätzliche – Ansprüche an die Alpen und damit einhergehend auch unterschiedliche Erwartungen. Doch wie sind diese zu gewichten?

Um die komplexe Ausgangslage und die sich daraus ergebenden Ansprüche abzubilden, berichten die «Glarner Nachrichten» in einer dreiteiligen Serie über die Alpen in Glarus Süd. Heute werden die Aspekte «Umwelt» und «Tierschutz» beleuchtet.

Grosse Spannungen gibt es zwischen Vertretenden der Landwirtschaft und der Umweltverbände. Martin Stützle, Präsident von «BirdLife Glarnerland», relativiert gleich zu Anfang: «Wenn man genau hinschaut, müssten die Landwirte und wir vom Umweltschutz dieselben Ziele haben, was den Klimaschutz und die Biodiversität anbelangt.» Bei einem zweiten Blick ergeben sich dann aber deutliche Unterschiede. So grosse, dass man seitens Landwirtschaft die Zusammenarbeit weitestgehend gekappt habe, wie Christian Beglinger, Präsident des Glarner Alpvereins, sagt.

Die fünf wichtigsten Punkte im Überblick.

Biodiversität

Die Biodiversität leidet weltweit, und auch bei uns sind viele Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Der Lebensraum wird beschnitten, der Boden intensiver genutzt oder fremde invasive Arten breiten sich aus. Sowohl Naturschutzverbände wie auch Glarner Landwirtinnen und Landwirte haben ein grosses Interesse daran, die Biodiversität zu fördern. «Wir haben das Idealbild von den Alpen mit den schönen Blumenwiesen. Diese findet man auch fast nur noch auf den Alpen, da Blumenwiesen unten im Tal durch die Intensivierung der Landwirtschaft praktisch ganz verschwunden sind», erzählt Barbara Fierz, Geschäftsleiterin von Pro Natura Glarus. «Trotzdem herrscht auch auf den Alpen schon lange nicht mehr die heile Welt.»

Älpler und Älplerinnen verstehen sich auch als Landschaftspflegende. «Für mich ist die Alpwirtschaft immer noch die günstigste Variante, um die Artenvielfalt zu erhalten», sagt Christian Beglinger, Präsident des Glarner Alpvereins. Die Rinder verhindern durch das Grasen, dass sich Fichten ausbreiten. Sonst ginge die jetzige Flora verloren. Barbara Fierz stimmt teilweise zu. Unter der Baumgrenze können die Nutztiere einen Beitrag dazu leisten, dass das Land nicht von Büschen überwuchert und letztlich zu Wald werde. Im Schatten der Bäume wachsen weniger und vor allem weniger verschiedene Pflanzen.

Alle acht Jahre wird die Biodiversität auf den Alpen untersucht, momentan werde eine weitere Bestandesaufnahme gemacht. «Zur letzten Untersuchung hat sich gar nichts verändert, auch nicht zum Negativen», fasst Beglinger zusammen. «Die Flächen, die keine Qualität haben, sind die diejenigen um das Gebäude herum, wo man Gülle ausbringt.»

Bei den höher gelegenen Alpen ändere sich die Lage. Denn über der Baumgrenze gibt es keine Gefahr, dass das Land verbuscht. Dort werden vor allem Schafe gesömmert. Entscheidend sei die Art, wie die Tiere dort gehalten werden. «Schafe sind Feinschmecker, die fressen sehr selektiv, zum Beispiel Kräuter und Blumen», erklärt Fierz. Viele Schafe werden auf sogenannten Umtriebsweiden gehalten. Die Tiere sind höchstens 14 Tage am gleichen Ort und ziehen dann weiter. So wird verhindert, dass Schafe nicht nur Blüten rauspicken, sondern auch Gräser fressen. «Bei einer gut geführten Umtriebsweide wird die Biodiversität zwar nicht gefördert, aber wenigstens erhalten», führt Barbara Fierz aus.

Bei den Umtriebsweiden gibt es laut Christian Beglinger immer «schwarze Schafe, die immer auf derselben Grasnarbe sind und dort fressen». Doch im Grossen und Ganzen habe man die Situation in Glarus Süd im Griff. Barbara Fierz hingegen stellt grundsätzlich infrage, ob hoch gelegene Alpflächen bewirtschaftet werden sollen. Schliesslich «würden Wildtiere diese Flächen gerne übernehmen». Christian Beglinger führt das Argument an, dass die Schafalpen vor rund 20 Jahren modernisiert und angepasst wurden. Zum Beispiel, dass die Tiere nicht höher als 2300 Meter weideten, sodass die Alpenflora nicht ausgenutzt werde.

Zu einem anderen Schluss kommt eine Studie über die Muttenalp. «Während mehr als zehn Jahren seit der Aufgabe der Schafbeweidung wurden die Veränderungen bei Flora und Fauna dokumentiert. Viele Wildpflanzen haben sich erholt und die Anzahl der Schmetterlinge ist um einiges höher», argumentiert Fierz. In diesem Fall sei es ein Gewinn für die Biodiversität, dass die Schafe dort nicht mehr weideten.

Bild Sasi Subramaniam

Nutztiere

Hinter der Bewirtschaftung der Alpen steckt eine jahrhundertealte Tradition. Nicht nur die Art der Bewirtschaftung hat sich verändert, auch die Nutztiere. Martin Stützle, Präsident von «BirdLife Glarnerland», stellt fest, dass eine Intensivierung stattfindet. «Die Kühe sind im Vergleich zu vor 50 Jahren viel schwerer. Die Tiere halten sich darum vermehrt auf eher ebenen Flächen auf», erklärt Stützle. Grössere Kühe produzierten automatisch mehr Ausscheidungen, was sich wiederum auf die Pflanzen auswirke. «Es gibt Pflanzen, die bei zu hohen Nährstoffeinträgen rasch verschwinden.» Darauf folge ein ganzer Kreislauf, im ewigen Turnus vom «Fressen und gefressen werden». Es wachsen keine blühenden Pflanzen mehr, die unter anderem als Futter für Insekten dienen. Wenn die Insekten wegfallen, haben die Vögel weniger zu essen, und so weiter.

Für die Bäuerinnen und Bauern ergeben sich verschiedene Vorteile, wenn sie ihre Tiere auf die Alp geben. «Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass die Tiere dann älter werden. Man kann das mit dem Höhentraining von Sportlern vergleichen», so Christian Beglinger. Die Tiere würden auf der Alp sehr naturnah gehalten und können ihren Herdentrieb ausleben. Die Rinder verbringen den Sommer komplett im Freien. Die Milchkühe werden lediglich fürs Melken in den Stall getrieben. Zudem ist es für die Tiere angenehmer, wenn es auf der Alp weniger heiss ist als im Tal. 

Ein Wolf, mutmasslich
Ein Wolf, mutmasslich

Wolf

Die Wolfspräsenz hat auf den Alpen vieles verändert. Die Herdenschutzmassnahmen wurden hochgefahren, sprich mehr Zäune, mehr Personal, enger eingezäunte Herden und der Einsatz von Herdenschutzhunden. Das wirkt sich auf das Nutzvieh und die Wildtiere aus. Die Landwirtinnen oder Landwirte müssen ihre Tiere nun rigoros einzäunen. Dadurch steigt die Gefahr, dass sich Wildtiere darin verheddern.

Auch Barbara Fierz stellt einen gewissen Interessenskonflikt fest. Es brauche nicht nur Zäune, sondern auch andere Weidesysteme. «Der Wolf fordert sicherlich, dass man übersichtlicher zäunt als früher. Aber allem kann man nicht gerecht werden.» Ihr Lichtblick liegt in der Forschung. Sie hofft, dass es bald Alternativen zu den heute gängigen Flexinetzen gibt, den mobilen, grobmaschigen Netzen aus Plastik. In Deutschland gebe es Bestrebungen, andere Zaunarten zu finden, die auch wolfssicher seien.

Die Alp Wichlen in Elm gilt momentan als «nicht zumutbar schützbar». Nach Angaben des Kantons sind dort 40 Schafe im Sommer gerissen worden, 35 weitere werden vermisst. Das Bundesamt für Umwelt hat den Kanton Glarus Anfang Dezember aufgefordert, die Bewirtschaftung zu überprüfen. Barbara Fierz findet es bedenklich, dass die Grundlagen für den Herdenschutz erst erarbeitet wurden, als das Wolfsrudel bereits im Glarnerland war. Gerade auf der Alp Wichlen habe man so die Chance verpasst, zeitgerecht einen effektiven Herdenschutz umzusetzen.

Noch bedauernswerter findet es Martin Stützle von «BirdLife» allerdings, dass immer der Wolf der Leidtragende sei. «Der Wolf gehört in unser Ökosystem», hält er fest. Eine Zuweisung der Tiere in die Schubladen «Nützling» oder «Schädling» sei veraltet und bringe uns nicht weiter.

Wie Christian Beglinger ausführt, belastet die Wolfspräsenz vor allem das Personal auf den Schafalpen. Bis jetzt seien keine Kühe, Rinder oder Kälber angegriffen worden. Doch auch Beglinger stellte im Sommer auf der Nüenalp oberhalb von Mollis Veränderungen fest: «Wenn die Wölfe unsere Alp streifen, haben wir unruhige Tiere oder mehr Tiere, die aus dem eingezäunten Bereich gehen. Bei Gebieten, die nicht absturzgefährdet sind, geht das noch», so Beglinger. Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Kühe oder Rinder abstürzen, weil sie von den Wölfen weggetrieben werden.

Zusammenarbeit

Das Reizthema «Wolf» spaltet die Glarner Naturverbände und die Landwirtinnen und Landwirte. «Seitens Bauern haben wir die Zusammenarbeit eingestellt, nicht nur wegen des Wolfs», erzählt Christian Beglinger. «Immer wenn eine Alp saniert oder ein Weg verbreitert werden muss, macht Pro Natura Einsprache.» Darum sei man nicht mehr bereit, zusammenzuarbeiten. Er bedauert das in gewissen Bereichen, doch es fehle schlicht und einfach das Vertrauen.

Fierz widerspricht diesem Vorwurf. Zu Umnutzungen von bestehenden Gebäuden zu Hirtenunterkünften hätten sie sich stets positiv geäussert. Und wenn Bauvorhaben den Naturschutz nicht berücksichtigen würden, habe Pro Natura den gesellschaftlichen Auftrag, dies einzufordern. Sie versteht, dass sich ihre Interessen nicht überall decken. Aber die Bäuerinnen und Bauern verweigerten sich auch Projekten, die beiden Seiten zugutekämen. Ein Beispiel dafür ist die Aktion «Pasturs Voluntaris», aus dem Rätoromanischen übersetzt «freiwillige Hirten». Das Projekt wurde im Kanton Graubünden lanciert, unterstützt von Naturverbänden wie Pro Natura oder dem WWF. Freiwillige werden während zwei Tagen ausgebildet und helfen dann auf den Alpen beim Herdenschutz mit, indem sie Zäune stellen oder die Tiere überwachen. Aus dem Kanton Glarus kam keine einzige Anfrage. Die Älplerinnen und Älpler «haben sich verweigert», so Fierz. «Das war ein ernst gemeintes Angebot, von Menschen, die sich engagieren wollen.» Die gekappte Zusammenarbeit hat laut Martin Stützle weitreichende Konsequenzen: Die Bäuerinnen und Bauern «blockieren mit dem Thema ‘Wolf’ alles. An Besprechungen wird gesagt: ‘Ihr seid für den Wolf. Wir sprechen nicht mit euch über Biodiversität.’»

Christian Beglinger findet «Pasturs Voluntaris» an sich sinnvoll. «Einige Älplerinnen und Älpler haben sich daran gestört, dass das Projekt aus Naturschutzkreisen kommt.» Das sei schade. Auch Beglinger hat keinen Antrag an die Organisation gestellt, weil er selber schon seit Jahren zusammen mit Freiwilligen auf der Alp arbeite.

Bild Sasi Subramaniam

Alpen aufgeben

Die zuständigen Abteilungen der Gemeinde Glarus Süd und des Kantons streiten vehement ab, dass es eine Option sei, Alpen aufzugeben – wegen finanziellen Gründen oder wegen der Wölfe. Barbara Fierz bringt das Thema trotzdem aufs Tapet, aber aus einem anderen Grund: «Wenn man über die Koexistenz von Alpwirtschaft und Wolf spricht, dann muss man auch darüber reden, ob man gewisse Alpen aufgeben sollte.» Sie bezieht sich auf Flächen, wo die Biodiversität momentan durch die Bewirtschaftung leidet. Darum appelliert sie an die Politik, «nicht nur die Produktivität von Alpen in Betracht zu ziehen, sondern auch den Erhalt der Biodiversität» in eine Entscheidung einfliessen zu lassen. Das würde Glarus Süd auch finanziell helfen: «Die Gemeinde müsste ein vitales Interesse daran haben, zwischen Alpen zu unterscheiden, die man aufrechterhalten will und denjenigen, die man zugunsten der Biodiversität aufgeben könnte. Denn die Erhaltung der Biodiversität ist ebenfalls eine Aufgabe, die Kanton und Gemeinden wahrnehmen müssen.»

Für Christian Beglinger hingegen ist es keine Option, Alpen aufzugeben – auch nicht wegen der Biodiversität. Er ist als Berggänger viel in den höheren Lagen unterwegs. «Ich sehe es von aus meiner eigenen Erfahrung: Die Artenvielfalt nimmt über die Jahre einfach massiv ab, wenn das Land nicht bewirtschaftet wird», so Beglinger.

Sara Good verantwortet die Glarner Inhalte auf «suedostschweiz.ch». Zudem kreiert sie multimediale Inhalte und schreibt Artikel für die «Glarner Nachrichten». Sie hat den Diplomlehrgang am MAZ absolviert und Multimedia Production in Chur studiert.

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