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Ein Glarner war der erste Kämpfer für die Schwulenbewegung

Heinrich Hössli veröffentlichte 1836 das erste Buch, das sich für die Rechte der Schwulen einsetzte. Rolf Thalmann von der Heinrich-Hössli-Stiftung erklärt, welche Bedeutung das Werk heute noch hat.

Südostschweiz
03.08.23 - 04:30 Uhr
Kultur

von Melissa Stüssi

Er war Hutmacher, Modist und Schriftsteller – und der Pionier der Schwulenbewegung in der Schweiz: der Glarner Heinrich Hössli. Sätze wie «Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster» schrieb Hössli schon 1836. Am 6. August wäre er 239 Jahre alt geworden. Seine Thematik ist auch heute noch aktuell.

Rolf Thalmann aus Basel ist Historiker und Stiftungsrat der schweizerischen Heinrich-Hössli-Stiftung. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Schwulengeschichte der Schweiz. Im Interview erzählt der 76-Jährige, wie Heinrich Hössli die Schwulenbewegung geprägt und was er mit Anna Göldi zu tun hat.

Rudolf Thalmann, wer war Heinrich Hössli?

Er wurde lange Zeit als Sonderling angesehen, als kurlige Person. Ob er selbst schwul war, lässt sich nicht sagen. Immerhin war er verheiratet und hatte zwei Söhne. Auf jeden Fall war er ein mutiger Mann. Er wagte gegen die Vorurteile seiner Zeit zu sprechen. Darüber, dass es Menschen gibt, die völlig zu Unrecht bedrängt, verfolgt, eingesperrt und sogar getötet werden. Er war der Allererste, der diese Kritik formuliert und öffentlich gemacht hat – ohne Rücksicht auf Verluste. Und er war ein Einzelkämpfer. 

Was war Hösslis Motivation, sein erstes Buch «Eros. Die Männerliebe der Griechen» zu schreiben?

Darüber kann man nur rätseln. Er war definitiv ein aufgeklärter Mensch und vielleicht war er bisexuell. Der konkrete Auslöser war eine Hinrichtung von 1817. Der Rechtsanwalt Franz Desgouttes aus Langenthal wurde als einer der letzten Menschen in Europa erwürgt und gerädert, nachdem er aus Liebeskummer seinen Lehrling getötet hatte. Diese Hinrichtung war ausgesprochen grausam und unverhältnismässig. Das beschäftigte Hössli. 

Hösslis Buch beginnt aber nicht mit Männerliebe, sondern mit der Hexenverfolgung – was hat es damit auf sich?

Der Anna-Göldi-Prozess von 1782 war damals natürlich noch in aller Munde. Hössli hat zudem im Haus Abläsch 10 in Glarus gewohnt, also im selben Haus wie Anna Göldis Mitangeklagter Rudolf Steinmüller einige Jahre zuvor. Deshalb hat Hössli der Fall so sehr bewegt. Er zog seine Parallelen zu der Verfolgung der Schwulen und sagte im ersten Kapitel seines Buches voraus, dass man eines Tages auch auf die Verachtung der Männerliebe ungläubig zurückschauen werde.

Was war Hösslis These?

Homosexualität – beziehungsweise Männerliebe, denn das Wort Homosexualität gab es damals noch nicht – ist genauso natürlich wie die Liebe zwischen Mann und Frau. Sie ist auch nicht selbst gewählt, sondern von der Natur so vorgegeben. Also ist es völlig ungerecht und verblendet, dass man sie verfolgt. Jede Liebe ist in Ordnung. Dann kommt auch noch ein kultureller Hintergrund zum Zug: Hössli war der Überzeugung, dass die alten Griechen das hochstehendste Volk der Geschichte waren, und wenn Männerliebe bei ihnen akzeptiert wurde, wieso sollte es dann bei uns anders sein? Er hat sehr viele verschiedene Argumente herangezogen, deshalb ist das Buch teilweise auch etwas mühsam zu lesen. Hössli hatte nur eine bescheidene Schulbildung. Er eignete sich sein Wissen selbst an und schrieb während 15 Jahren an dem Buch, bis es 1836 veröffentlicht wurde.

Wie haben Hösslis Zeitgenossen auf das Buch reagiert?

Mit Unverständnis. Es wurde sofort vom Glarner Sittengericht oder Kirchenrat – damals auch «Stillstand» genannt – verboten. Der zweite Band von Hösslis «Eros» erschien 1838 in St. Gallen. Er wurde nicht verboten, blieb aber ebenso wirkungslos. Die ersten zehn bis 20 Jahre gab es fast keine Resonanz, kaum jemand kannte die Bücher. Es finden sich auch keine Hinweise in Dokumenten oder Zeitungen. Hössli war so frustriert, dass er auf einen dritten Band verzichtete und 1851 aus dem Glarnerland wegzog. Er wohnte dann an diversen Orten in der Ostschweiz und ab 1860 in Winterthur, wo er vier Jahre später verstarb. Es gibt nur Notizen, die auf einen dritten Band hindeuten. Beim Brand von Glarus 1861 verbrannte schliesslich ein Grossteil der Bücher, nur wenige Exemplare haben überdauert.

«Hösslis Buch wurde sofort vom Glarner Sittengericht verboten.»

Rolf Thalmann, Historiker

Wie wurde Hössli dann doch noch bekannt?

Der deutsche Jurist Karl Heinrich Ullrichs wurde 1867, drei Jahre nach Hösslis Tod, auf seine Werke aufmerksam und verwendete sie als Quelle für seine eigenen Bücher. Damals sollte Ullrichs eine Rede für die Minderung von Strafen gegen Homosexuelle in der Gesetzgebung halten. Auf dem Weg zum Podium hatte er Zweifel, ob seine Worte gut aufgenommen würden – da kam ihm Hössli in den Sinn. Entschuldigung, mir kommt jedes Mal das Augenwasser, wenn ich diese Geschichte erzähle. Hössli hatte in seinem Buch geschrieben, er wolle nicht in sein Grab herabsteigen, ohne seine Stimme für diese unterdrückten Menschen erhoben zu haben. Ullrichs wollte Hösslis würdig sein und hielt die Rede daraufhin, trotz seiner ursprünglichen Zweifel.

Welchen Einfluss hat Hössli auf die heutige Schwulenbewegung?

Natürlich hat Hössli die Entwicklungen geprägt, aber eher indirekt. Er hatte Einfluss auf die Diskussionen im 19. und 20. Jahrhundert auf höherer intellektueller Ebene. Es gibt heute kaum mehr eine Geschichte der Homosexualität, in der Heinrich Hössli nicht vorkommt. Er ist in Historikerkreisen bekannt, aber nicht in der aktuellen Schwulenbewegung. Ich empfinde die heutige Jugend als weitgehend ahistorisch. Die Jungen interessieren sich kaum noch für Geschichte.

Braucht es noch mal einen Heinrich Hössli?

Wir sind noch lange nicht bei einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit für Homosexuelle angelangt. Ich kann nur hoffen, dass das noch kommt. Wir als Stiftung arbeiten daran, beispielsweise mit Schulprojekten. Es ist interessant: Manchmal, wenn wir eine Klasse besuchen, sagen die Schülerinnen und Schüler danach: «Aber die sind ja ganz nett.» Es gibt immer noch viele Vorurteile, oft auch, weil die Leute niemanden in ihrem Umfeld kennen, der schwul ist. Aber nein, es braucht nicht noch mal einen Heinrich Hössli. Es braucht mutige Homosexuelle, die in ihrem Umfeld offen sagen und zeigen, wer sie sind. Leider gibt es immer noch viele, die den Mut dazu nicht haben.

Artikel-Serie zu Ehren von Heinrich Hössli

Heinrich Hössli, Glarner Hutmacher und Pionier der Schwulenbewegung, wäre am 6. August 239 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erscheint in den «Glarner Nachrichten» eine Serie. In diesem ersten Teil berichtet der Historiker Rolf Thalmann von Hösslis Lebensgeschichte. Im zweiten Teil machen wir uns auf die Suche nach der Queer*-Community im Glarnerland. Und im letzten Teil sagt Sabrina Strub, Präsidentin der kantonalen Gleichstellungskommission, wie es um die Rechte und die Akzeptanz von queeren Menschen im Kanton Glarus steht. *«Queer» ist eine Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind, sowie für Geschlechtsidentitäten, die nicht mit dem Geburtsgeschlecht übereinstimmen.

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