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«Die Zukunft zu gestalten, geht nur gemeinsam»

Dieses Jahr kam Landrat Jürg Zürcher die Ehre zuteil, an der offiziellen Davoser Bundesfeier die 1.-August-Ansprache halten zu dürfen. Die DZ gibt die Rede im Wortlaut wieder.

Davoser
Zeitung
01.08.23 - 17:00 Uhr
Ereignisse
Der Bundesbrief, datiert auf Anfang August 1291, gilt als ältestes Verfassungsdokument der Schweiz.
Der Bundesbrief, datiert auf Anfang August 1291, gilt als ältestes Verfassungsdokument der Schweiz.
zvg

Sehr verehrte Davoserinnen und Davoser, sehr geschätzte Gäste

Sehr verehrter Herr Standespräsident Tarzisius Caviezel

Ich freue mich ausserordentlich, heute die Festrede zum 732. Jahrestag der Schweiz halten zu dürfen. Der 1. August ist der Geburtstag der Schweiz. Als Geburtsjahr wird das Jahr 1291 angesehen. Und wie wir Menschen volljährig werden, also den wichtigen 18. Geburtstag feiern, und dann weitere wichtige bedeutende Stationen im Leben erreichen, so gab es auch für unsere Nation einige elementare Meilensteine in ihrer Entwicklung.

«Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten!»

Helmut Kohl, der ehemalige deutsche Bundeskanzler hat dieses Zitat in einer Rede im Deutschen Bundestag geprägt. Die Vergangenheit zu kennen, ist wichtig für gegenwärtiges Handeln. Dieses Zitat Helmut Kohls gilt auch insbesondere für die bewegte Geschichte unseres Landes. Lassen Sie mich deshalb auf die Geschichte unseres Landes kurz zurück­blicken.

Wie Sie in der Schule alle gehört haben, – und die anwesenden ausländischen Gäste vielleicht aus dem Drama des deutschen Dichters Friedrich Schiller wissen – lässt der Legende nach der Vogt Gessler einen Hut auf eine Stange stecken und befiehlt den einheimischen Untertanen (und Untertaninnen), diesen jedes Mal zu grüssen, wenn sie an ihm vorübergehen. Ein eigensinniger Mann namens Tell verweigert den Gruss, und der Vogt befiehlt ihm zur Strafe, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen. Tell tut widerstrebend, wie ihm geheissen und trifft den Apfel. Er hatte aber zwei Pfeile bereit gemacht, und der Vogt fragt ihn danach. Dieser sei für den Vogt gewesen, antwortet dieser, für den Fall, dass er seinen Sohn getroffen hätte. Darauf lässt der Vogt ihn gefesselt auf seine Burg nach Küssnacht überführen, wo er lebenslang eingekerkert werden soll. Bei der Überfahrt auf dem Vierwaldstättersee aber bringt ein Sturm das Schiff in Gefahr und Tell wird seiner Fesseln entledigt, um das Boot zu lenken. Geschickt steuert er es gegen das Ufer und springt dort auf eine hervorstehende Felsplatte. Er enteilt über die Berge nach Küssnacht und erwartet den heimkehrenden Vogt in einem Hohlweg, der Hohlen Gasse, und erschiesst ihn aus dem Hinterhalt mit der Armbrust. 

«Si non e vero, e ben trovato», sagt der Italiener. Falls es nicht wahr wäre, so ­wäre es doch gut erfunden.

Erstmals in schriftlicher Form tauchte die Legende des Schweizer Nationalhelden Tell im Weissen Buch von Sarnen als «Thäll» auf, niedergeschrieben um 1472. Danach verbreitete sich die Tell-Sage sehr rasch und wurde zum Volksgut, Willhelm Tell somit zur Identifikationsfigur, dem Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit.

Das Wichtige bei den Legenden ist nicht so sehr die historische Tatsache, sondern vielmehr die Botschaft, die sie vermitteln. Anders als bei Märchen haben Legenden und Sagen einen tieferen Sinn und einen wahren Kern. Bei der Bildung der nationalen Identität der heutigen Schweiz, spielten Mythen und Legenden eine wichtige Rolle.

Landrat Jürg Zürcher – hier beim Schöpfen der traditionellen Gerstensuppe – lobt die direkte Demokratie.
Landrat Jürg Zürcher – hier beim Schöpfen der traditionellen Gerstensuppe – lobt die direkte Demokratie.
bg

Der Bundesbrief, datiert auf Anfang August 1291, gilt als ältestes Verfassungsdokument der Schweiz. Darin sichern sich die innerschweizerischen Talgemeinschaften Uri, Schwyz und Unterwalden gegenseitige Hilfe zu gegen alle, die ihnen Gewalt oder Unrecht antun. Dieses Dokument gibt es – damals in Papierform – heute im Bundesbriefmuseum in Schwyz ausgestellt. Natürlich ist es nüchterner abgefasst als alle Sagen, welche sich um die Entstehung der Eidgenossenschaft ranken – dafür aber echt.

Die Geschichte der Schweiz ist auch stark geprägt von der Reformation und den darauf folgenden Kämpfen und Kriegen zwischen Katholiken und Protestanten, der Besetzung durch Napoleon gegen Ende des 18. Jahrhunderts und das Errichten der Helvetischen Republik, einem zentralistischen Staat nach französischem Vorbild. Das war jedoch kein Modell, das zur Genetik der freiheitsliebenden, föderalistischen Schweizer passte.

Bald brachen innere Kämpfe aus, französische Truppen kamen erneut in die Schweiz, die Republik wurde aufgehoben und das Land wurde wieder zum Staatenbund von kleineren und grösseren Kantonen.

Die bis heute letzte militärische Auseinandersetzung auf Schweizer Boden war der Sonderbundskrieg 1847, ein kurzer Bürgerkrieg zwischen konservativen, katholischen Kantonen und den meistens liberal geprägten, protestantischen Kantonen, welcher dazu führte, dass der lockere Staatenbund 1848 mit einer neuen Bundesverfassung zu einem modernen Bundesstaat wurde, mit einem Bundesparlament, bestehend aus zwei Kammern (spöttisch könnte man bemerken, nach dem amerikanischen Modell von 1787). Die Kantonsgrenzen fielen, die Zollhäuser, welche überall an den Kantonsgrenzen Zölle einzogen, verschwanden, eine gemeinsame Währung und die Personenfreizügigkeit unter den Kantonen wurden eingeführt.

Blicken wir auf die Geschichte der Schweiz zurück, stellen wir fest, dass wir über lange Jahrhunderte kein «Einig Volk von Brüdern» waren, wie es im Bundesbrief von 1291 als anzustrebende Zielsetzung geschrieben steht. Die Schweiz, wie wir sie heute kennen, ist nicht einfach so von selbst gewachsen. Die Schweiz von heute musste von unseren Vorfahren erstritten und erkämpft werden.

Bereits 1874 wurde die Bundesverfassung zum ersten Mal einer Gesamtrevision unterzogen und dabei das fakultative Referendum eingeführt, welches von da an jedem Schweizer ermöglichte, bei bereits beschlossenen Gesetzen das Referendum zu ergreifen. 1891 folgte die Einführung der Volksinitiative.

«Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten!»

Heute ist das Schweizer Volk wie kein anderes an politischen Entscheidungen beteiligt. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind Weltmeister im Abstimmen. So konnten wir zwischen 1874 und 2021 an 622 Volksabstimmungen auf nationaler Ebene teilnehmen, nebst vielen Abstimmungen auf kantonaler und kommunaler Ebene. Auf Platz zwei liegen Neuseeland mit 117 Abstimmungen und das Fürstentum Liechtenstein mit 115.

In der gleichen Zeit wurden 200 Referenden ergriffen und vor das Volk gebracht, und es wurden 226 Volksinitiativen vorgelegt.

Klammerbemerkung: Von diesen 226 Volksinitiativen wurden nur 24 angenommen. Die dabei am meisten unterstütze Initiative kam 1983 zur Abstimmung und verlangte die Einführung eines Nationalfeiertages am 1. August. Die Initiative wurde mit 83 Prozent Ja-Stimmen angenommen.

Unsere direkte Demokratie funktioniert auch heute im Jahr 2023, und auch bei komplexen Themen. Unser System ist weltweit einzigartig und ein grosser Verdienst unserer Vorfahren. Darauf dürfen wir mit Recht stolz sein.

«Ds Volk het immer rächt!» ist eine Aussage, welche von allen Parteien unterschrieben wird und in der DNA der meisten Schweizer Bürgerinnen und Bürger verankert ist. Es ist das grundsätzliche Verständnis der Schweizer Politik, dass das Volk zuoberst steht. Den politischen Diskurs führen, mitreden, mitdenken, zuhören: Alles das ist wichtig, um die direkte Demokratie lebendig zu erhalten.

Gestalten wir weiterhin gemeinsam unsere Zukunft!

«Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten!»

Ist unser politisches System fit für die ­Zukunft? Digitalisierung, Klimawandel, Altersvorsorge, Energiesicherheit und unsere Beziehung zur EU sind nicht nur grosse Herausforderungen, sondern auch Chancen für unser Land! Es sind Themen, für welche Lösungen gefunden werden müssen, aber auch gefunden werden können.

Die Zukunft zu gestalten, geht nur gemeinsam. Zusammen nach der bestmöglichen Lösung zu suchen, ist wichtig. Sehr oft ist diese Lösung dann ein Kompromiss, auf welchen man sich sehr bewusst einlässt. Unser politisches System der direkten Demokratie verlangt den Diskurs, den Austausch und die pragmatische Lösung. Lösungen müssen mehrheitsfähig sein, um am Schluss an der Urne zu gewinnen. Und genau das macht die Schweiz aus. Mehrheitsfähige Lösungen sind in der Regel nicht die schlechtesten.

Deshalb können wir zuversichtlich sein für unser Land! Wir alle sind aufgefordert, die Zukunft zu gestalten, um weiterhin gemeinsam in allen Bereichen den besten Weg für unser Land finden zu können!

Lang lebe die Schweiz!

E gitg vivi la Svizra!

Viva La Svizzera!

Vive la Suisse!

Ich wünsche allen einen schönen 1. August!

Landrat Jürg Zürcher

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