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Für die Zukunft bewahrt

Eine Archivschachtel beleuchtet die Archivlandschaft Schweiz – auch im Staatsarchiv Graubünden machte die Schachtel halt.

Bündner Woche
24.06.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Historisch: der Grenzstein und die Archivschachtel im Rebberg der Firma Boldini bei Monticello.
Historisch: der Grenzstein und die Archivschachtel im Rebberg der Firma Boldini bei Monticello.
zVg

von Laura Natter

Mittnacht, Morgen, Mittag, Abend. In geschwungener Schrift stehen die Himmelsrichtungen, die wir heute als Norden, Osten, Süden und Westen bezeichnen, auf jenem Grenzplan von 1766. Das Original, welches heute in der Kantonsbibliothek in Chur archiviert ist, liegt an jenem Nachmittag auf dem Schreibtisch des Staatsarchivars Reto Weiss. «Eigentlich würde der Plan ins Staatsarchiv gehören», meint er schmunzelnd. Es ist ein Grenzplan, der die Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden aufzeigt. Ein Plan, der Geschichten erzählt und dessen Kopie aktuell in der Archivschachtel des Vereins Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) lagert. 

Dieser feiert heuer sein 100-jähriges Bestehen und begeht dieses unter anderem mit der Archivschachtel. Diese wurde am 4. Februar beim Bundesarchiv in Bern auf eine Reise durch die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein geschickt. Jeder Standort legt der Schachtel etwas bei, bis sie im September wieder in Bern ankommt. Als Zeichen der Zusammengehörigkeit. Vom 15. bis 20. Juni machte die Archivschachtel halt in Chur. Doch dazu später.

Ein Wirrwarr an Archivsystemen?

Wir machen einen Abstecher in die Archivlandschaft Schweiz. Grundsätzlich, so Reto Weiss, sei das Archivwesen nicht auf Bundesebene geregelt. Jeder Kanton verfügt über ein eigenes Archivgesetz, das die Archive der öffentlichen Hand im Kanton betrifft. Namentlich das Staatsarchiv und die Gemeindearchive. Sie sind verpflichtet, die wesentlichen Unterlagen von Verwaltung und Behörden zu archivieren. Daneben gibt es zahlreiche private Archive und Kulturarchive, die mit Unterlagen privater Herkunft die Geschichte einer Region oder eines bestimmten Themas dokumentieren. «Wichtige Archive für den Kanton Graubünden», betont der Staatsarchivar. Auch im Staatsarchiv werden neben staatlichen Unterlagen private Bestände aufbewahrt, wenn sie von kantonaler Bedeutung sind. Dazu gehören die Archive vornehmer Familien, die Graubünden prägten: die von Salis, Planta oder Sprecher zum Beispiel.

Nun könnte man meinen, dass die kantonalen Regelungen ein Wirrwarr an Archivsystemen in der Schweiz ergeben. Der 100-jährigen Arbeit des VSA ist es jedoch zu verdanken, dass dem nicht so ist. Trotz unterschiedlicher Gesetze arbeiten die Archive mit ähnlichen Mitteln und Methoden. Zudem sei der VSA noch immer bedeutend für die Ausbildung von Archivarinnen und Archivaren. «Früher gab es keine Ausbildung. Man lernte 'on the job'», so Reto Weiss. Der VSA führte eine Grundausbildung und Kurse ein und sorgte für die Professionalisierung der Archivberufe. Heute gibt es gar ein Hochschulstudium. An der Fachhochschule Graubünden werden Informationswissenschaften gelehrt, eine Vertiefung davon ist das Archivwesen. Viele Archivarinnen und Archivare haben jedoch Geschichte studiert. Auch Reto Weiss ist Historiker, hat nach seinem Studium aber für einige Jahre als Informatiker gearbeitet. Wissen, das ihm heute zugutekommt. «Einerseits muss man als Archivar oder Archivarin ein historisches Grundwissen, ein Interesse für Geschichte aufbringen, sonst wird man nicht glücklich in einem Archiv. Man muss gerne mit verschiedenen Quellen arbeiten. Auch handwerkliche Fähigkeiten sind von Bedeutung, so muss man zum Beispiel die alten Schriften lesen können. Sinn und Geschmack für Ordnung, Systematik und Informatik sind ebenfalls zentral. Wir werden mehr und mehr digital», erklärt Reto Weiss das Berufsprofil. Zu guter Letzt fordert der Job auch Verantwortungsbewusstsein. Ein Archivar, eine Archivarin muss entscheiden, welche Unterlagen der Nachwelt erhalten bleiben sollen. Besonders anspruchsvoll ist dies bei Beständen privater Herkunft, bei denen keine gesetzliche Vorgaben gelten. Eine Arbeit, die weit in die Vergangenheit reicht, die Gegenwart aufzeigt und für die Zukunft bewahrt.

Klarheit schaffen: Der Grenzplan von 1766 legt die Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden fest.
Klarheit schaffen: Der Grenzplan von 1766 legt die Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden fest.

Il primo grigionese

Weit in die Vergangenheit reicht nun auch jener Grenzplan aus dem Jahr 1766. Er zeigt den Weiler Monticello im Misox. Die Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden. Darauf eingezeichnet ist ein Grenzstein. Einer, der heute noch steht. Mitten im Rebberg der Firma Boldini. Der Kanton Tessin hat der Archivschachtel eine Kopie des Grenzplans beigelegt. Genau beim Grenzstein fand deshalb vor Kurzem die Übergabe der Archivschachtel zwischen dem Staatsarchiv Tessin und dem Staatsarchiv Graubünden statt. Die Grenze bei Monticello habe über Jahrhunderte für Streitigkeiten gesorgt, sagt Reto Weiss. Der Plan sollte Klarheit schaffen. Doch auch heute komme die Grenze dem Besitzer des Rebbergs, Eligio Boldini, immer wieder in die Quere, erzählt der Staatsarchivar weiter. Wenn auch im Scherz. Denn wenn Eligio Boldini seinen Merlot del Ticino verkaufen wolle, heisse es oft, der komme doch aus Graubünden. Auch bei der letzten Vermessung 1980 war die Grenze Thema. So bezeichnete der damalige Abteilungsleiter für Vermessungen des Kantons Graubünden, Hans Griesel, Eligio Boldini als «l'ultimo grigionese», als der letzte Bündner vor der Grenze. Dieser konterte und meinte: «No, sono il primo grigionese.» Nein, er sei der erste Bündner.

Von oben: Die Luftaufnahme von 1997 zeigt die Grenze Tessin-Graubünden.
Von oben: Die Luftaufnahme von 1997 zeigt die Grenze Tessin-Graubünden.

Archiv der Zukunft

Den Plan und damit die Geschichten rund um die Grenze zwischen den beiden Kantonen ergänzt das Staatsarchiv Graubünden mit einer Luftaufnahme aus dem Jahr 1997, das den gleichen Ausschnitt auf einer Fotografie zeigt. Es macht damit auch auf das Archiv der Zukunft, genauer auf die neuen grossen Onlinebestände des Staatsarchivs aufmerksam. Es handelt sich dabei um digitalisierte Luftaufnahmen, Übersichtspläne, Wappen, Siegel und Landesberichte. Die über 27 000 Dokumente sind online frei zugänglich. Reto Weiss spricht in diesem Zusammenhang von einem virtuellen Lesesaal. Fakt ist, dass ein Archiv sich zwar mit der Vergangenheit auseinandersetzt, Vergangenes aber für die Zukunft bewahren muss. Wie auch immer diese aussehen mag.

Die neuen Onlinebestände sind unter www.sag.gr.ch einsehbar.

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