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Die einzige Rückversicherung

Mit dem Beitrag «Biodiversität – schön, wertvoll, bedroht – schloss die Naturforschende Gesellschaft Davos vorige Woche das Wintersemester von «Davos weiss mehr» ab.

Barbara
Gassler
30.04.22 - 16:46 Uhr
Leben & Freizeit
Eine Grafik zeigte die Verteilung der Biomasse gerechnet in Tonnen Kohlenstoff auf.
Eine Grafik zeigte die Verteilung der Biomasse gerechnet in Tonnen Kohlenstoff auf.
Screen shot

«Alle kennen inzwischen das Wort ‹Biodiversität› und wissen, dass sie wichtig und bedroht ist», eröffnete Moderatorin Birgit Ottmer das Webinar. Kaum jemand verstehe allerdings, wie und warum. «Biodiversität ist alles auf der Erde existierende Leben in all seinen Formen», wagte Anne Kempel, Biologin am SLF, eine erste Annäherung an das Thema. Unterschieden würden dabei drei Gruppen: Da sei einerseits die Vielfalt aller Lebensräume und Ökosysteme. Dann gebe es die Vielfalt an Arten und schliesslich noch die Vielfalt an Genetik. Diese sei essenziell für das Überleben der Art und spiele eine besondere Rolle bei der Anpassung an veränderte Bedingungen: «Dass jedes Individuum leicht anders ist, ist die Voraussetzung, um sich anzupassen», sagte sie und zeigte das am Beispiel des Birkenspanners auf. Innert kurzer Zeit habe sich auf Englands von Russ geschwärzten Stämmen eine dunklere, vor Fressfeinden besser geschützte Variante durchgesetzt.

Die Versicherung aufgeben ?

Der Frage, warum Biodiversität wichtig ist, ging Christian Rixen, Biologe am SLF, nach. «Wir brauchen die Ameise, um zu überleben, sie hingegen braucht uns überhaupt nicht», stellte er an den Anfang seiner Ausführungen. Er brachte auch die moralische Dimension ins Spiel: «Der Mensch verursacht gerade das sechste Massensterben. Wollen wir dafür verantwortlich sein?» Weiter sprach er die Ästhetik an: «Wir mögen diverse Natur, wir finden bunte, abwechslungsreiche Wiesen schöner.» Doch es gibt auch ganz handfeste Gründe, sich eine grosse Biodiversität und deren Dienstleistung zu wünschen: «Unsere ganze Nahrungsmittelproduktion hängt davon ab, und bei der Medizin wissen wir gar nicht, was uns alles noch verborgen ist.» Weitere Leistungen der Biodiversität sind ausserdem die Bereitstellung von Trinkwasser sowie Sauerstoff und umgekehrt der Abbau von Biomasse. Ausserdem sei eine vielfältige Natur eine Versicherung nach Katastrophen. Denn sie ermögliche eine rasche Wiederbesiedlung danach. Ein Experiment habe ausserdem bewiesen, dass, je mehr Arten in einem System vorkommen würden, die Produktion an Biomasse umso höher sei. Dies wiederum bedeute für die Menschheit ein Mehr auf dem Teller, fasste er zusammen. «Ausserdem ist die Fähigkeit solcher Systeme, Kohlendioxid zu binden, um das Zweifache erhöht.» Die grösste Bedeutung liege aber in der Zukunft: «Diversität ist eine Versicherung. Niemand weiss, welche Arten oder Funktionen wir in Zukunft brauchen.» Die Rettung könnte dann bei einer kleinen, unscheinbaren Art liegen, die vorher kaum beachtet worden sei.

Beängstigende Zahlen

Sonja Wipf, Leiterin Bereich Forschung am Schweizerischen Nationalpark, präsentierte sich nach den schönen Worten als Spielverderberin und berichtete über die vielfältigen Bedrohungen der Biodiversität. «In der Schweiz steht es um sie nicht gut», sagte sie einleitend. «Das steht auf der Webseite des Bundesamts für Umwelt, das nun wirklich nicht für alarmistische Aussagen bekannt ist.» Von den sonders wertvollen Lebensräumen wie Auen, Moore und Trockenwiesen seien bis zu 95 Prozent verloren gegangen. Als Gründe führte sie einerseits die landwirtschaftliche Intensivierung und Düngung an. «Dadurch werden einige wenige Arten bevorzugt.» Bei der Düngung werde Stickstoff übrigens immer auch über die Luft verteilt, und nicht direkt anvisierte Standorte würden mitgedüngt. «Das ist dort eine Katastrophe.» Für den Verlust weiter verantwortlich seien die Verstädterung und die damit einhergehende Bebauung des Bodens. «Die Gärten sind durchaus divers. Allerdings nicht aus der Natur, sondern aus dem Gartencenter.» Weitere Faktoren für den Verlust an Biodiversität seien der Klimawandel und der Verlust von Lebensräumen.

Insgesamt sei die Hälfte an Lebensräumen und ein Drittel der Arten bedroht, fasste Wipf zusammen. Dazu komme, dass die genetische Vielfalt zurückgehe. Daraus folgt: «Weg ist weg». Trotz vieler gegenteiliger Bemühungen würde routinemässig noch immer Zerstörung praktiziert, fuhr Wipf mit der ernüchternden Aufzählung fort. Dabei könne jedermann bei sich selber anfangen: «Regional, saisonal, pflanzlich und bio/nachhaltig», lautete ihre hinlänglich bekannte Empfehlung.

Webinar auf https://ngdavos.ch

Das tierische Leben macht nur gerade 0,4 Prozent der in Tonnen Kohlenstoff ausgedrückten Biomasse der Erde aus. Davon macht der Mensch selber etwa 2,5 Prozent aus und Fadenwürmer weitere 0,8 Prozent.Für wilde Säugetiere bleiben gerade mal 0,3 und für wilde Vögel 0,08 Prozent. Grafik: https://ourworldindata.org/life-on-earth

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