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Bauboom in Chur: Im Westen viel Neues

In Chur war die Anzahl Baugesuche noch nie so hoch wie derzeit. Christine Seidler, Professorin für Urbane Entwicklung und Siedlungsökonomie, ordnet ein.

Bündner Woche
22.03.23 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

von Laura Kessler und Cindy Ziegler

Wer sich in Chur bewegt, kommt nicht weit, ohne ein Baugerüst oder einen Kran zu erblicken. Oder gleich eine ganze Reihe. Es wird gebaut. Und in der Stadt gelebt. Eine schöne Entwicklung, die für Chur spricht. Jüngst verkündete die Stadt gar, dass die Anzahl Baugesuche noch nie so hoch war und im letzten Jahr mit 673 Gesuchen auf einem Rekordstand lag. Noch mehr eindrückliche Zahlen? Im Jahr 2022 umfasste das bewilligte Bauvolumen einen Investitionswert von stolzen 355 Millionen Franken. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das einer Steigerung von knapp 45 Prozent. Ein Teil des Baubooms spiegelt sich auch im Churer Wohnungsmarkt wider. Per Ende 2022 wurden 181 Neubauwohnungen fertiggestellt und weitere 463 befanden sich im Bau. Trotz des gestiegenen Wohnungsbestands sank die Leerwohnungsziffer im letzten Jahr weiter. Wie die Stadt mitteilt, standen Mitte 2022 gerade einmal 40 Wohnungen leer. Eine schöne Entwicklung, die für Chur spricht?

Stadtentwicklung – ein dynamischer Prozess

Wir treffen Christine Seidler, Professorin für Urbane Entwicklung und Siedlungsökonomie von der Fachhochschule Graubünden, zum Kaffee. Schon nach dem ersten Schluck warnt sie, dass die Stadtentwicklung ein dynamischer Prozess sei, den sie nicht in wenigen Worten umschreiben könne. Als Siedlungsplanerin macht sich Christine Seidler viele Gedanken um die Entwicklung von Städten und Dörfern – und auch darum, was der Bauboom mit Chur macht. In den letzten 25 Jahren habe sich die Bündner Kantonshauptstadt zu einer dynamischen und wachsenden Stadt entwickelt, besonders beliebt bei jungen Menschen. Die Gruppe der 20- bis 39-jährigen Churerinnen und Churer ist in den letzten Jahren am stärksten gewachsen. Wir wollen mehr wissen. Ist der Bauboom denn jetzt tatsächlich einfach nur ein gutes Zeichen, oder wirft er auch Schatten? «Wachstum gibt immer die Möglichkeit, Qualität zu schaffen, aber genau so, diese zu zerstören», erklärt die Expertin. Ganz oft werde ein Bauboom, wie ihn Chur derzeit erlebt, jedoch nur von einer Seite betrachtet und Stadtentwicklung mit quantitativem Wachstum gleichgesetzt. Und so versucht Christine Seidler doch, was sie zu Beginn als unmöglich bezeichnet hat: die Stadtentwicklung in wenigen Worten zu umschreiben.

Betongeld als Kernproblem

Die hohe Bautätigkeit in Chur, aber auch anderswo sei einerseits auf die hohe Nachfrage nach Wohnraum und Gewerbeimmobilien zurückzuführen. Andererseits hänge der Bauboom aber auch damit zusammen, dass immer mehr Leute ihr Geld gewinnbringend anlegen wollen. Und da Letzteres im Kapitalmarkt –aufgrund fehlender Anlagemöglichkeiten, einer instabilen Wirtschaftslage, Inflation und so weiter immer schwieriger wird, weichen die Anlegerinnen und Anleger auf Immobilien aus. Es entsteht, was Christine Seidler «Betongeld» nennt. «Leider wird sehr oft für das Parkieren von Geld gebaut und nicht für die Menschen», erklärt sie. Und benennt diese Entkoppelung der Bautätigkeit als das Kernproblem für vieles. Wohnungsnot, Leerstand, Zweitwohnungsproblematik. Dazu komme die Wachstumsfalle, die zweierlei Auswirkungen haben kann. Zum einen definieren strukturschwache Gemeinden grosszügig Bauzonen, mit der Hoffnung, gute Steuerzahlende anzulocken. Bleiben diese dann doch aus, entsteht ein Überangebot an Bauland und Wohnraum. Und die Gemeinde versucht, mit Preisdumping oder Sonderangeboten Mieterinnen und Mieter zu locken. Dieses Phänomen ist besonders in der Peripherie beobachtbar. In den Zentren führe schnelles Wachstum zu einem Anstieg der Immobilienpreise und Mieten. «Die Abbruchkultur steigt und günstiger Wohnraum weicht teuren Ersatzbauten», erklärt Christine Seidler. Das führe zu sozialer Ungleichheit und zu steigenden Mietpreisen. Dazu kommt, dass die Infrastruktur mangels Finanzen oder aufgrund Fehlplanungen nicht schnell genug mitwächst und dadurch Qualität verloren geht. Von Wachstumsfalle Nummer zwei ist auch Chur betroffen. Laut dem Schweizerischen Hauseigentümerverband sind die Mietpreise in Chur im Jahr 2021 im Schnitt um etwa 2,5 Prozent gestiegen. Wegen der Verknappung von Bauland steigen im Übrigen auch die Bodenpreise immer mehr. «Der Wohnungsmarkt in Chur ist sehr angespannt», konkludiert die Expertin.

Chur im Wandel

Zusammen werfen wir einen Blick in die längerfristige Siedlungsentwicklung Churs. Als Stadt hat auch sie im Laufe der Jahrhunderte viele Veränderungen durchgemacht, die sich an der städtebaulichen Entwicklung ablesen lassen. Die wichtigste Tendenz in der neueren Geschichte sei dabei der Bruch im Städtebau durch die Moderne, erklärt Christine Seidler. Durch die Trennung der Funktionen geschah alles an einem anderen Ort. Wohnen, Arbeit, Einkaufen, Freizeit. Das verändert das Stadtbild in den 1960ern und 1970ern grundlegend. Es ist die Zeit, in der auch die grossen Einkaufszentren entstehen. Doch mit der Zunahme der Mobilität seien die Innenstädte immer mehr im Verkehr erstickt, was zu Stadtflucht führte. Mit der Revitalisierung wurde daraufhin versucht, eine höhere Attraktivität zu lancieren. So auch in Chur, beispielsweise als in den 2010er-Jahren die Altstadt und die Bahnhofstrasse in Etappen zu Fussgängerzonen umgestaltet wurden. Im Moment wird nun vor allem auf die Nachhaltigkeit im Städtebau und das verdichtete Bauen fokussiert. Das alles sind Entwicklungen, die sich auch andernorts so oder so ähnlich beobachten lassen. Besonders an Chur ist indes die enge Verbundenheit mit der Plessur, die Begrenztheit durch die Tallage und die vielen Häuser, die deswegen in Hanglage gebaut worden sind.

Das aufstrebende Trendquartier – Chur West

Und wo wird heute für die Zukunft von morgen gebaut? Neben dem Welschdörfli und dem Quartier Rosenhügel, beide in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum, ist es vor allem das Gebiet im Westen der Stadt. «Ein aufstrebendes Trendquartier», sagt Christine Seidler. Sie beschreibt die Urbanisierung als treibenden Faktor für das Wachstum der Quartiere und meint dabei weit mehr. «Das ist ein Lebensgefühl.» Und so entsteht jetzt in Chur West, was sich vor wenigen Jahren auch in Masans entwickelte: ein Zentrum abseits des eigentlichen Stadtzentrums. Ein wichtiger Teil dessen: die Megaüberbauung auf dem Kleinbruggenareal.

Baustellenübersicht in der Stadt Chur

Ein Dorf mit viel Grün

Als «einen wunderschönen Sonntag» bezeichnete der Architekt und Projektgewinner Zeno Vogel das neue Quartier Kleinbruggen. Ein Quartier in Chur West, 11,2 Hektaren gross, das bis 2028 bebaut sein soll. Gebäude, die wie fünf Finger in die Landschaft nahe des Rheins ragen und nach der Zukunft greifen. Das ist zumindest das Ziel der Kleinbruggen AG. Ilario Bondolfi und Werner Derungs erzählen, was es mit dem Projekt auf sich hat. Ein Dorf mit viel Grün, ein Selbstversorgerquartier, dennoch ein urbanes Projekt. Stichworte, die während des Gesprächs immer wieder fallen. Alle mit dem Hinweis: Hier wird für die Zukunft gebaut.

Um was geht es? Das Quartier Kleinbruggen grenzt an die Ringstrasse, die Pulvermühlestrasse, die Autobahn A13 und die Rheinfelsstrasse. Es ist eine der letzten zusammenhängenden Bauzonen dieser Grösse in Chur. Landbesitzer ist das Priesterseminar St. Luzi. Die Kleinbruggen AG übernahm das Quartier im Baurecht und arbeitet nun mit Unterbaurechtnehmern zusammen, die 13 Baufelder bebauen. Verschiedene Unternehmen errichten auf dem Gebiet Mehrfamilien- und Gewerbebauten, wobei vier Gebäude bereits stehen, fünf Gebäude sich in der Realisierung befinden und vier Gebäude bis 2028 gebaut werden. «Schlussendlich werden rund 1000 Menschen im Quartier Kleinbruggen leben», sagt Ilario Bondolfi. 1000 Leute, 400 bis 600 Wohnungen, daneben viel Grün, dafür wenig Parkplätze. So die Idee. «Wir fragten uns zu Beginn natürlich schon, wie gut das Geplante ankommt. Das ist kein 0815-Projekt», meint er.

Ein Quartier der Zukunft

Das Quartier ist ein zertifiziertes 2000-Watt-Areal. Das Erste in Graubünden und einem grossen Teil der Ostschweiz. Bedeutet, dass nicht nur die Gebäude klimaneutral (Netto-Null), energieeffizient und ressourcenschonend gebaut werden müssen, Strom und Wärme sollen ebenfalls aus 100 Prozent erneuerbaren Energien gewonnen werden, es soll eine nachhaltige Mobilität gefördert werden, die Ver- und Entsorgung soll die natürlichen Ressourcen schonen, der Aussenraum soll eine hohe Lebensqualität bieten, die Mieterinnen und Mieter sollen sich aktiv einbringen und beteiligen können und das Angebot innerhalb des Quartiers soll divers sein. Ein Quartier, in dem man vieles findet. Das einen nicht zwingt, weite Strecken zurückzulegen. Das den emissionsarmen Verkehr – Velos, E-Autos und Ähnliches – fördert. Ein Quartier, das ganzheitlich betrachtet und behandelt wird.

Das Richtprojekt wurde vom Zürcher Architekten Zeno Vogel erstellt. Entstanden ist ein detaillierter Quartierplan, aus dem wiederum ein Quartier wachsen soll, das optisch ansprechend sei, so Ilario Bondolfi. Nicht von Anfang an sei die Kleinbruggen AG von allen Ideen Zeno Vogels begeistert gewesen, erzählt Werner Derungs weiter. Nach einem Besuch im Quartier Freilager in Zürich, wo ein Teil ebenfalls von Zeno Vogel geplant wurde, sahen die Verantwortlichen jedoch den Mehrwert in seinen Ideen. 900 Wohnungen finden sich im Zürcher Quartier, dazu gerade einmal 570 Parkplätze, dafür 2800 Veloparkplätze. «Damals meinte man, man brauche pro Wohnung mindestens zwei Parkplätze. Doch wenn ich sehe, wie sich viele junge Menschen heute fortbewegen, muss der Fokus tatsächlich auf eine andere Art der Mobilität und des Wohnens gelegt werden», so Werner Derungs weiter. Auch im Quartier Kleinbruggen wird es vermutlich nicht für jede Wohnung einen Parkplatz geben, dafür aber viele Veloparkplätze und Grünfläche. «Die ganze Klimageschichte ist nicht erfunden. Wir müssen unseren CO2-Ausstoss reduzieren. Es genügt nicht, einfach nur davon zu reden. Wir müssen es umsetzen», sagt Ilario Bondolfi. Im Quartier Kleinbruggen soll das gelingen. Das Bauland sei gefragt, das Projekt komme trotz vieler Auflagen an, sagt Werner Derungs. 
Ein Quartier der Zukunft entsteht und das in einem Gebiet der Zukunft: Chur West. Gebaut wird viel im Westen von Chur. Gewerbe- und Wohnhäuser, auch hat das Churer Stimmvolk letzten Herbst Ja zum Ausbau des Bahnhofs Chur West gesagt. Der Westen von Chur wächst. Der Rand der Stadt. Eine schöne Entwicklung, die Chur entspricht?

Verlust von Baukultur und Identität

Christine Seidler hat ihren Kaffee fast ausgetrunken. Bevor sie mit dem Velo zurück in die Stadt fährt, warnt sie nochmals. «Wachstum hat immer ein Preisettikett. Wir müssen die Siedlungsentwicklung als dynamischen Prozess verstehen, den wir bewusst lenken können.» Qualität anstatt Quantität also. «Im Städtebau hat alles langfristige Folgen. Passen wir nicht auf, wird die Zersiedelung der Landschaft grösser und wir erleben einen unsichtbaren Verlust von Baukultur und Identität.» Dabei ist es ihr wichtig, zu betonen, dass Verdichten diese Qualität bieten kann, und verweist beispielsweise auf die Churer Altstadt. Ein Gebiet, in dem so dicht an dicht gebaut wurde wie kaum irgendwo sonst in der Stadt. «Das empfinden wir als schön. Wissen Sie, warum?», fragt sie und gibt die Antwort gleich selber. «Weil wir die Altstadt als einen Ort verstehen, den wir aus sich selbst heraus weiterentwickeln. Wir beachten die Geschichte und sind gewillt, zu sanieren, anstatt abzureissen.» Christine Seidler selbst hat aber einen anderen Lieblingsort in Chur. Das Welschdörfli. «Nach architektonischen Kriterien igentlich ein Unort», meint sie. «Aber mit unheimlich viel Potenzial und viel Gemeinsamen.»

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