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Zu Besuch beim visuellen Gedächtnis des Kantons Graubünden

Die Fotostiftung Graubünden will mit modernster Technologie die ältesten Fotos für die Zukunft retten. Wertvolle Bilder sollen dank KI und Co. neu erlebbar gemacht werden.

Bündner Woche
06.06.24 - 04:30 Uhr
Menschen & Schicksale
Nutzende einer Geo-App können dank Augmented-Reality-Funktion vergangene und aktuelle Situationen vor Ort miteinander vergleichen.
Nutzende einer Geo-App können dank Augmented-Reality-Funktion vergangene und aktuelle Situationen vor Ort miteinander vergleichen.
zvg

Von Andri Dürst

Nicht nur das Produzieren von Fotos fasziniert viele Menschen. Auch das Betrachten von alten Bildern ist oftmals etwas Besonderes und mit Emotionen verbunden.

Dafür, dass historische Fotos und somit auch Emotionen nicht verloren gehen, sorgt die Fotostiftung Graubünden. Auf ihrer Internetseite bezeichnet sie sich auch als «das visuelle Gedächtnis des Kantons Graubünden.» Und dieses «Gedächtnis» kann sich mittlerweile sehen lassen: «Wir haben in unserem Archiv etwa eine halbe Million Originalbilder», informiert Geschäftsführer Pascal Werner. Er hat zusammen mit zwei Schulfreunden 2007 einen Verein gegründet, der das Ziel hatte, das Vermächtnis der Bündner Fotografie zu erhalten und zu vermitteln. 2013 wurde das Ganze dann in eine Stiftung überführt. Seither kamen wichtige Bestände in das Archiv, so etwa mehrere Tausend Fotografien des Engadin-Press-Archivs aus den Jahren 1880 bis 2000.

Johannes Meyer (l.) und Pascal Werner experimentierten in der Jugend im gemeinsamen Fotolabor.
Johannes Meyer (l.) und Pascal Werner experimentierten in der Jugend im gemeinsamen Fotolabor.
zVg

KI und Algorithmen helfen mit

Schon zu Beginn waren die Gründer darum bemüht, die historischen Fotografien zu digitalisieren. Glücklicherweise setzte man schon von Anfang an auf eine gute Auflösung, sodass die damals erstellten Digitalisate nach wie vor qualitativ den heutigen Ansprüchen standhalten. Einem Punkt habe man aber nicht so sehr Beachtung geschenkt, wie es andere Archive getan hätten: der Beschreibung der Bilder. «Anfangs wurden wir teilweise kritisiert, weil die Bilder in unserem Archiv schlecht beschrieben waren», blickt Pascal Werner zurück. Mittlerweile hat die Fotostiftung den Spiess aber umgedreht: Mit Johannes Meyer, einem der beiden Schulfreunde, gründete er 2020 die Firma Locomot und entwickelte in Zusammenarbeit mit der ETH ein Programm zur automatischen Beschreibung von Archivbildern. Dazu mussten aber die Algorithmen, die die Fotos abchecken, «erzogen» werden. «Wir mussten dem Programm beispielsweise beibringen, dass ein Kirchturm ein Kirchturm ist und nicht etwa ein Hochhaus», ­erklärt der Geschäftsführer. Dank künstlicher Intelligenz (KI) könne man Schwarz-Weiss-Fotos auch kolorieren, was die automatische Bilderkennung wiederum vereinfache.

Dank KI können Schwarz-Weiss-Bilder …
Dank KI können Schwarz-Weiss-Bilder …
zVg
… per Knopfdruck koloriert werden.
… per Knopfdruck koloriert werden.
zVg

Nicht nur erhalten, sondern auch vermitteln

Darauf basierend ist man aktuell am nächsten Schritt dran: «Derzeit entwickeln wir ein sogenanntes faktenbasiertes GPT, das heisst ein KI-Werkzeug, das die automatisierte Bildbeschreibung und den direkten Verweis zu den verwendeten Quellen ermöglicht», erklärt der Mathematiker Johannes Meyer. Konkret heisst das, dass – wenn das Programm beispielsweise die Kirche St. Johann in Davos erkennt, parallel dazu passende Quellentexte aus dem Archiv einer Zeitung sucht und dem Nutzer oder der Nutzerin sämtliche relevanten Ereignisse zur Kirche als Fliesstext vorschlägt.

Die verschiedenen Elemente dieses Fotos – es zeigt eine Situation beim Bahnhofplatz in Davos Platz – wurden von Algorithmen erkannt.
Die verschiedenen Elemente dieses Fotos – es zeigt eine Situation beim Bahnhofplatz in Davos Platz – wurden von Algorithmen erkannt.
zVg

Doch das ist noch nicht alles: «Als Nächstes planen wir, den Digitalisierungsprozess komplett zu automatisieren», verkündet Pascal Werner. Dieses Vorhaben dient aber keineswegs der Verwirklichung von technischen Träumereien. «Das Digitalisieren der Fotos ist oftmals ein Rennen gegen die Zeit.» Denn gewisse Originale müsse man so rasch als möglich digitalisieren, ehe sie zerfielen oder unkenntlich würden. Künftig sollen also Fotos von einem Roboterarm, der über Saugnäpfe verfügt, auf den Scanner gelegt, eingelesen und dann automatisch beschriftet werden. So könne man beispielsweise über Nacht ganze Stapel von Fotos verarbeiten. Denn so – ist Pascal Werner überzeugt – könne eine Entlastung beim Archivpersonal herbeigeführt werden. «Die Mitarbeitenden hätten dann mehr Zeit, um beispielsweise mit Zeitzeugen zu sprechen und deren Erinnerungen aufzuzeichnen.» Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt, der dem Geschäftsführer sehr wichtig ist. «Meine Aufgabe sehe ich darin, das Wissen der ältesten Leute den jüngsten Leuten zu vermitteln.» In den nächsten Jahren werde es nicht nur um den Erhalt der Fotobestände gehen, sondern auch darum, bei jungen Menschen das Interesse daran zu wecken. Auch hier bedient man sich wieder modernster Technologie: Mit sogenannter «Augmented Reality» soll es möglich werden, an ausgewählten Orten sein Handy zu zücken, darauf ein historisches Bild abzurufen und 1:1 mit der heutigen Situation zu vergleichen.

Heute versuchen Johannes Meyer und Pascal Werner (im Bild), in der Welt der Fotografie die ältesten mit den modernsten Technologien zu vereinen.
Heute versuchen Johannes Meyer und Pascal Werner (im Bild), in der Welt der Fotografie die ältesten mit den modernsten Technologien zu vereinen.
zVg

Erstaunliches kommt zutage

Pascal Werner ist also voll in der Fotowelt zu Hause. «Ich habe schon früh alte Fotos gesammelt. Nach der Kanti war ich auch eine Zeit lang an der Fotoschule in Vevey. Schlussendlich habe ich an der ETH ein Architekturstudium abgeschlossen und unterrichtete dann an derselben im Bereich Fotografie und Video.» Und seit 2007 ist er wie gesagt bei der Rettung des visuellen Erbes Graubündens engagiert. Was war sein persönlicher Höhepunkt in dieser Zeit? «Das Tollste ist immer, wenn etwas zum Vorschein kommt, von dem man dachte, es sei verschwunden.» So erhielt er vor einigen Jahren von einem Herrn aus Malix eine Ladung alter Fotos aus Davos. Die Bilder haben aber nicht nur einige Kilometer im Kanton hinter sich, sondern eine halbe Weltreise. «Er hat sie im Estrich seines alten Hauses gefunden. Obschon die Fotos von einem Dachbrand leicht verkohlt waren, hat er sie an seine verschiedenen Wohnorte auf der halben Welt mitgenommen, weil er irgendwie doch einen Wert in ihnen sah.» Ebenfalls sehr faszinierend sei er von einem Foto gewesen, auf dem die bekannte Solisbrücke zu sehen ist – aber nicht etwa die heutige Bogenbrücke, sondern ihre Vorgängerin aus Holz.

 

Die rund 10 000 Porträts auf Acetat-Trägermaterial sind nur ein kleiner Teil des Bestandes Foto Guler (Thusis).
Die rund 10 000 Porträts auf Acetat-Trägermaterial sind nur ein kleiner Teil des Bestandes Foto Guler (Thusis).
zVg

Ein riesiges Puzzle

Was aber treibt Pascal Werner tagtäglich an, sich für den Erhalt der Bündner Fotografie einzusetzen? «Ich stelle mir das wie ein grosses Puzzle vor, das aus vielen zeitlichen und geografischen Teilen besteht. Ich fühle mich immer angetrieben, dieses Puzzle zu vervollständigen.» So würden sich auch längerfristige Veränderungen gut erkennen lassen. «Zum Beispiel interessierte es mich, wie viele Bäume es in der Stadt Chur früher gab. Als ich dann alte Fotos betrachtete, fiel mir auf, wie viel Grün in den letzten Jahrzehnten verloren ging. Im Alltag merkt man so etwas aber oft nicht; und die Veränderung wird erst beim Betrachten von solchen Fotos deutlich.» Die Bedeutung eines solchen Fotoarchivs ist also nicht zu unterschätzen. Denn auch hier gilt – wie in einem berühmten Zitat festgehalten: «Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.»

www.fotogr.ch

 

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