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Niemand soll sprachlos sein: Heidi Payer therapiert Schulkinder

Die Churer Logopädin Heidi Payer therapiert Schulkinder mit Sprachauffälligkeiten. Ihre Arbeit geht aber weit über das Wegtrainieren von Lispeln und Stottern hinaus.

Bündner Woche
19.10.24 - 04:30 Uhr
Menschen & Schicksale
Logopädie ist Sprachtherapie und keine Sprachförderung, betont Heidi Payer.
Logopädie ist Sprachtherapie und keine Sprachförderung, betont Heidi Payer.
Susanne Turra

Von Susanne Turra

«Unser ganzes Leben ist sprachlich durchdrungen. Die Sprache bildet die Schaltstelle für den Erwerb kultureller Formen und kulturellen Wissens. Nur über die Sprache kann das Kind als denkendes Individuum in eine menschliche Kultur hineinwachsen und eine gesellschaftliche und persönliche Identität ausbilden.» Ein Zitat von Hannelore Grimm, Psychologin.

Das tut dem Kind gut

Es ist Freitag vor den Herbstferien im Schulhaus Lachen in Chur. Die grosse Pause ist vorbei. Und die Schulglocke klingelt laut. Ebenso laut hetzen und drängeln die Schulkinder in ihre Schulzimmer. Mit Gelächter. Geplapper. Und viel Temperament. So soll es sein. Ganz anders ist es im Logopädiezimmer im ersten Stock. Dort ist es still. Es ist das Zimmer von Heidi Payer. Hier therapiert die Logopädin Schulkinder mit Sprachauffälligkeiten. Aber Achtung. Bei Heidi Payer wird nicht etwa Deutsch gelernt. Logopädie ist Sprachtherapie und keine Sprachförderung. Das ist ein schmaler Grat. Eine Herausforderung. «Eine Leidenschaft», ergänzt Heidi Payer. Seit 30 ​Jahren arbeitet sie schon als Logopädin. Mittlerweile betreut sie auch viele Migrationskinder. Zu einem Kind, das aus Bosnien stammt, sagt sie dann beispielsweise: «Ich spreche leider kein Bosnisch. Aber du schon. Damit hast du einen grossen Schatz.» Das tut dem Kind gut. Denn seine Sprache ist seine Identität. Und so sollen die Eltern mit dem Kind auch weiterhin bosnisch sprechen. Damit das Kind nicht plötzlich keine Sprache mehr hat. Und da sind wir beim Punkt. «Damit ein Kind zu mir kommt, muss es ein Problem haben in seinem Erstspracherwerb», erklärt die Logopädin. «Und dieses Problem gilt es so früh wie möglich zu erkennen.»

Spielend zur Sprache finden: Logopädin Heidi Payer bekommt Hilfe von den Puppen Lilly und Tom.
Spielend zur Sprache finden: Logopädin Heidi Payer bekommt Hilfe von den Puppen Lilly und Tom.
Susanne Turra

Wie ist der Satzbau, der Wortschatz?

Auffälligkeiten beginnen schon im Kleinkindalter. Zeigt ein Baby auf Gegenstände? Lacht es, wenn Mama lacht? Macht es eine Mimik nach? Wann beginnt es zu sprechen? Hat es mit drei Jahren einen sogenannten «Wortschatzspurt»? «Eine altersentsprechende Sprachentwicklung ist mit fünf Jahren abgeschlossen», sagt Heidi Payer. «In diesem Alter sollte ein Kind eine sinnvoll zusammenhängende Geschichte erzählen und in Haupt- und Nebensätzen formulieren können.» Und so spricht man auch nur bis zum dritten Lebensjahr von einer Sprachentwicklungsverzögerung. Nachher wird es zu einer Spracherwerbsstörung. «Im ersten Kindergarten machen wir eine erste logopädische Erfassung», erklärt die Fachfrau. Sind Sprachverständnis und Sprachproduktion altersgerecht? Wie antworten die Kinder auf die W-Fragen? Was, wer, wo, wann, wie, warum? Wie ist der Satzbau, der Wortschatz, die Artikulation, der Redefluss, die Stimme? Bei Auffälligkeiten gibt es eine Abklärung mit dem Kind und den Erziehungsberechtigten. Ein entsprechender Antrag für die Kostengutsprache und ein Bericht gehen an die Regionallogopädin. Und später an die Schuldirektion. Eine Therapie dauert in der Regel zwei Jahre. Manchmal mehr. Manchmal weniger. Und eine Lektion dauert 45 ​Minuten. Für jedes Kind wird ein Dossier angelegt. Mit Therapieplan, Berichten und Gesprächsnotizen. Alles feinsäuberlich dokumentiert und belegt. Und die Therapie?

Das Kind muss fragen können

«Es beginnt mit dem Blickkontakt», erklärt Heidi Payer. «Schaut das Kind mich an? Oder schaut es irgendwohin?» Die Logopädin muss das Kind zum Sprechen bringen. Zum Erzählen. Und genau hier liegt oftmals das Problem. Ohne Kommunikation und Erlebnisse wird keine Fantasie angeregt. «Nur wenn Kinder sprechen, kann ich Defizite erkennen», so die Logopädin. Darauf kann aufgebaut werden. Es ist eine individuelle Therapie. «Ich kann nicht mit allen Kindern das Gleiche machen», so Heidi Payer. «Sie stehen alle an einem anderen Punkt. Und dort muss ich sie abholen.» Es geht auch nicht nur um einen Laut, der falsch gebildet wird. Es geht um die Teilnahme am Geschehen. Fühlt sich das Kind angesprochen? Versteht es etwas? Wird es verstanden? Das Kind muss etwas spüren. Sich selber spüren. Sich etwas zutrauen. Emotionen zeigen. Bedürfnisse anmelden. Grüssen können. Sich bedanken können. Sich ausdrücken können. «Das Kind muss fragen können», bringt es die Logopädin auf den Punkt. «Es soll, darf und muss nachfragen.» Das gehört zu den Spracherwerbsstrategien. Dazu braucht es Selbstwertgefühl. Und Durchsetzungsvermögen. Es ist ein Prozess. Und da sind Lehrpersonen und Erziehungsberechtigte gleichermassen gefordert. Bilderbücher anschauen. Rituale schaffen. Ruhig bleiben. Zeit geben. Das hilft.

Was ist wo? Mit dem Wimmelbuch wird die Sprache entdeckt.
Was ist wo? Mit dem Wimmelbuch wird die Sprache entdeckt.
Susanne Turra

Weit über das Lispeln hinaus

Wie auch immer. «Wir müssen uns mit Entwicklungspsychologie auseinandersetzen, um die Sprachentwicklung zu verstehen», so Heidi Payer. Und: «Wir müssen eine Beziehung zum Kind aufbauen.» Schlussendlich muss das Kind sagen können: «Das bin ich. Und das will ich.» Und es muss Nein sagen können. Und richtig spielen können. Spielen? «Wenn das Kind keine antizipierende Vorstellung von einem Spiel hat, hat es auch wenig Sprachverständnis», betont die Logopädin. Durch Spielentwicklung kann es zur Sprache finden. Dazu gibt es verschiedene Spielformen. Funktionsspiel. Symbolspiel. Rollenspiel. Konstruktionsspiel. Regelspiel. Und hier kommen die Puppen Lilly und Tom ins Spiel. Sie helfen Heidi Payer bei der Therapie. «Wenn ein Kind ein Wort nicht weiss, dann fragt es Tom. Aber Tom weiss es auch nicht. Und so steht das Kind auch nicht alleine unwissend da. Tom sagt, weisst du was, wir fragen Frau Payer. Fragst du? Und das Kind fragt», erzählt Heidi Payer. «Und wir sind unserem Ziel ein kleines bisschen näher.»

Übrigens kann Puppe Lilly sogar gefüttert werden. Sie kann die Zunge herausstrecken und zeigen, wo die Zunge hingehört. Die Zunge spielt beim Sprechen nämlich eine grosse Rolle. Ebenso wie die Atmung, Haltung, Stimme und das Schlucken. Logopädie hilft. Bei Sprachauffälligkeiten. Und die gehen weit über das Lispeln hinaus.

Logopädie in Graubünden
Die Logopädie im Frühbereich richtet sich an Kinder vor Eintritt in den Kindergarten mit fehlendem oder verzögertem Sprechbeginn oder Sprachauffälligkeiten. Diese können sich in folgenden Bereichen zeigen: Lautbildung, Wort- und Satzbildung, Sprachverständnis, Redefluss, Kommunikationsverhalten, Auffälligkeiten der Stimme, Mundmotorik, Saugen und Schlucken.
Die Logopädie nach der obligatorischen Schulzeit richtet sich an Jugendliche bis zum 20. Lebensjahr, welche für die erfolgreiche Weiterbildung im tertiären Bildungsbereich oder die berufliche Eingliederung auf logopädische Unterstützung angewiesen sind.
Der Heilpädagogische Dienst arbeitet im Leistungsauftrag des Amtes für Volksschule und Sport Graubünden. Die Logopädie im Frühbereich und die Logopädie im nachobligatorischen Bereich sind freiwillige Angebote und für die Eltern/Erziehungsberechtigten kostenlos. Alle Mitarbeitenden unterstehen der Schweigepflicht. Die Logopädie während der obligatorischen Schulzeit liegt in der Zuständigkeit der Schulträgerschaft.

Weitere Informationen findet ihr hier.

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