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Beim Trauma kann man sich nicht wehren

Sehr geehrte Redaktion,

im Fall des wegen Vergewaltigung angeklagten Bündner Richters zweifelt dessen Anwalt die Aussage des Opfers an, weil „keine Schmerzen, keine Blessuren, keine Verletzungen“ festgestellt worden seien. Zudem bezeichnet er ihr Gefühl, sich "nicht mehr im eigenen Körper" gefühlt zu haben, als "raumzeitlichen Kontrollverlust".

Dazu ein wichtiger Hinweis: Traumatische Erlebnisse wie sexualisierte Gewalt führen häufig zu einer Schockreaktion, die als Dissoziation bezeichnet wird.
Dabei verliert die betroffene Person das Gefühl für den eigenen Körper und erlebt die Situation wie von außen - eine automatische Schutzfunktion des Nervensystems. Diese Reaktion ist weder gewollt noch steuerbar und kann dazu führen, dass sich die Betroffenen kaum oder gar nicht zur Wehr setzen.

Dieser gut dokumentierte Überlebensmechanismus bei extremem Stress und Angst kommt in der Aussage der Praktikantin deutlich zum Ausdruck.

Ihre Reaktion bestätigt den Tatbestand der Vergewaltigung eher als dass sie ihn widerlegt. Das Fehlen sichtbarer Verletzungen oder das Erleben von Dissoziation schmälert keineswegs die Glaubwürdigkeit der Betroffenen – im Gegenteil: Es zeigt die Realität vieler Opfer sexualisierter Gewalt. Die Argumentation des Anwalts offenbart eine bedenkliche Unkenntnis über die Auswirkungen von Traumata.

Mit freundlichen Grüssen,

Dr. Willem Lammers

Willem Lammers
02.11.24 - 12:44 Uhr
Leserbrief
Ort:
Maienfeld
Zum Artikel:
Bündner Richter vor Gericht, 02.11.2024
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Was das Verteidigungs-Duopack hier liefert, kopfstehender gehts wohl nicht (scheint gar die Aufgabe einer Strafverteidigung zu sein).
"Welt sei zusammengebrochen", "traumatisiert". Das Opfer sei der Angeklagte.
Ähnliches behauptete der unsägliche Schwyzer SVP-Kantonsrat Bernhard Diethelm.
Ich finde Gesetze und Rechtspraxis in der Schweiz im Allgemeinen verstörend täterfreundlich.
https://www.infosperber.ch/gesellschaft/kontertext-verletzte-verletzen/…
Opferschutz?
Zitat: Obwohl das Bundesgerichtsurteil einen Fortschritt für den Schutz der Betroffenen von sexualisierter Gewalt darstellt, bleibt das Schweizer Sexualstrafrecht mangelhaft. Bis heute anerkennt das Gesetz den Straftatbestand der Vergewaltigung nur bei Anwendung von körperlichem Zwang. Diese Definition steht im Widerspruch zur von der Schweiz ratifizierten Istanbul-Konvention, nach welcher alle nicht einvernehmlichen sexualisierten Handlungen eine Vergewaltigung darstellen.
https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/frau/bge-vergewaltigun…
https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/sexualisierte-gewalt/dok/…
Dass Opfer unter Schock sich kaum bzw. nicht wehren können, ist längst bekannt.
Sexuelle Gewalt.
Zusatzfaktor Abhängigkeit, Angst punkto Ausbildungsziel (Praktikum). Nötigung, Erpressung.
Aber die Verteidigung "versucht" es halt. Beispiel: Bericht im Beobachter: Ein Immigrant (der bereits in seiner Heimat mehrfach traumatisiert wurde) erlebte in der Schweiz einen Motorsägen-Angriff. Die Versicherung wollte sich vor Zahlungen drücken und behauptete, das Opfer sei durch frühere Traumata "abgehärtet". Vor Bundesgericht bestätigte ein Psychiater, dass das Gegenteil der Fall ist: Wer eine Verletzung erlitt, ist dadurch verletzlicher, also das Gegenteil von "abgehärtet". Es ist fraglich, ob das Opfer das Trauma überhaupt heilen kann, aber hier nochmal in dieselbe Kerbe hauen/verletzen oder gar mehrfach, das würde quasi dem Rest den Rest geben. Allergisch bedeutet, dass weniger genügt für grösseren Effekt.
Ich finde: Eine Binsenweisheit. Da hätten Sie auch mich fragen können. Oder den Volksmund: "Gebranntes Kind".
Betreffend Larmoyanz des Angeklagten bzw. seiner Verteidiger à la "Er sei traumatisiert. Und von allen Seiten fertiggemacht worden":
0) Kann man solche Täter überhaupt genügend "fertigmachen"?
1) Wie viele Wochen oder Monate hat der Täter dem Opfer nachgestellt bzw. wie lange hatte er Zeit, sich zu "besinnen"?
2) Würde ein richtiger Mann sich von einer ablehnenden Frau nicht selbstverständlich abwenden? Selbstachtung?
Stattdessen tätigt er, zumal über längere Zeit, mit Gewalt die Ablehnung zu überwinden.
3) Opfer: Andere Traumas sind später vielleicht verdrängbar/umgehbar, aber hier geht es um ein Körpersystem, mit dem man den Rest seines Lebens zu tun hat und entsprechend erinnert (assoziiert).
4) Volk und Gericht: siehe weiter oben.