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Dekolonisierung: Entschuldigung als Wahlkampfpropaganda

Als Ausdruck eines generellen Wertezerfalls und peinlich berührt erlebte ich gerade die allererste durch den, eine sog. „Global-Leader-Nation“ repräsentierenden, US-Präsidenten Joe Biden inszenierte, öffentliche Entschuldigung einer US-Regierung gegenüber den indigenen Menschen in der USA. Wenn es durchaus beachtens- und lobenswert ist eine Entschuldigung für die unsäglichen Gräueltaten (Deportation, Völkermord, Aberziehung der indigenen Kultur bei Kindern etc.) gegenüber der indigenen Bevölkerung überhaupt und zu welchem Zeitpunkt auch immer auszusprechen, dann muss es uns doch bedenklich stimmen, dass eine solch wichtige Geste offensichtlich für den Wahlkampf für Kamala Harris bzw. die Demokraten in den sog. Swing-States missbraucht wurde. „Es geht ja gerade im Gleichen“ … nein geht es nicht !
Meiner Meinung nach ist es peinlich und beschämend offizielle Dekolonisierungsschritte, mit Floskeln und durch Hintergedanken teilweise entwertet, für eine weltweit sehr ernstzunehmenden Bewegung in Richtung Versöhnung zu instrumentalisieren. Es ist der Ausdruck eines Zerfalls von Werten - wie grundlegender Anstand und Würde - in unserer Menschen-Gemeinschaft, dass in einer Welt wo „Fake-News“ und echte News immer mehr verschwimmen auch immer mehr der Eindruck entsteht, dass nichts mehr „heilig“ ist, dass alles zum Nutzen von kurzfristigen, nicht nachhaltigen Zielen benutzt werden darf; speziell in der Politik, selbst in einer Demokratie, sind die „Reibungsverluste“ von Prozessen derart hoch, dass oft am Schluss die eigentlichen Themen kaum mehr wiederzukennen sind.
Ich bin der Auffassung, dass die Auswirkungen des Kolonialismus (Post- oder Neokolonialismus) heute grundlegend sehr viele Konflikte in der Welt, offiziell oder unterschwellig massgeblich beeinflussen und darum eine ernstzunehmende Versöhnung dringend nötig ist.
Auch peinlich berührt sollten wir über den Ausgang des kürzlich stattgefundenen Commonwealth-Treffens in Samoa sein, wo der britische Premierminister Starmer im Gegensatz zu den versöhnlichen Äusserungen seines Königs Charles III. den ehemaligen Kolonialgebieten die offizielle Entschuldigung in der Schlusserklärung verweigerte.
Da bin ich froh, dass wir in der Schweiz - wo gerade die Ausstellung „Kolonial - Globale Verflechtungen der Schweiz“ im Landesmuseum läuft - auch im Zusammenhang mit einem weiterhin laufenden dekolonisierenden Versöhnungsprozess mit den Jenischen ein vergleichsweise recht aufrichtiger und konkreter Weg gegangen wird.

Thomas Rüedi
28.10.24 - 11:24 Uhr
Leserbrief
Ort:
Domat/Ems
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Lieber Thomas Rüedi, wozu aufregen? In der Erwartung, von der USAchse des Bösen käme je Besseres? Das einzig Praktische für uns wäre eine Résistance. Quasi das Gegenteil von USA-Groupies à la JMZ.

Ich glaube nicht, dass Bidens Entschuldigung unehrlich war und nur Wahlpropaganda war. Biden hat getan, was längst überfällig war und was viele US-Präsidenten hätten tun können. Für Biden war es die letzte Gelegenheit, dies als Präsident vor dem Ende seiner Amtszeit zu tun.
Und vergessen wir nicht: Die Schweiz hat sich erst entschuldigt, nachdem die Zeitschrift BEOBACHTER den Skandal um die Kinder der Landstrasse publik gemacht hatte.