Die Zehn Gerichte leben wieder auf
Ein Blick zurück, als noch ein Landvogt vom Prättigau aus herrschte, und ein Blick nach vorne, auf den Bundstag in Davos.
Ein Blick zurück, als noch ein Landvogt vom Prättigau aus herrschte, und ein Blick nach vorne, auf den Bundstag in Davos.

von Andri Dürst
Gut ausgebaut, aber dennoch kurvenreich ist die Strasse von Küblis hoch ins Dörfchen Putz. Die Autofahrt dauert rund 10 Minuten. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie beschwerlich dieses Wegstück zu früheren Zeiten gewesen sein muss. Denn lange Zeit war Putz ein wichtiger Ort für die Region. Nicht aber etwa das Dorf an sich war wichtig, sondern vielmehr die auf einem Felsvorsprung thronende Burg Castels. Dieser Name ist heute eher wenig bekannt. Doch Castels war eine von zehn Gerichtsgemeinden, die sich 1436 zum Zehngerichtebund zusammenschlossen. Mit dabei waren auch Klosters, Davos, Schiers, St. Peter, Langwies, Churwalden, Belfort, Maienfeld und Malans. Gründungsort war Davos, wo auch alle Versammlungen des Bundes abgehalten wurden; alternierend mit Ilanz und Chur wurden dort ebenso die sogenannten Bundstage der Drei Bünde abgehalten. Kein Wunder also, ist Davos heuer, zum 500-Jahr-Jubiläum des Freistaats der Drei Bünde, Austragungsort einer grossen Veranstaltung: Am 20. Juli findet dort ein moderner Bundstag statt, mit Debatten, Festumzug, «Walserdörfji» und vielem mehr.
Herschaft der Österreicher
Doch zurück auf die Burg Castels, die heute nur noch aus Ruinen besteht. Hier treffen wir Christoph Luzi. Er ist in Klosters aufgewachsen und arbeitet als Historiker. Für das 500-Jahr-Jubiläum verantwortet er die Wanderausstellung. Seit Anfang Juli ist er zudem Leiter der Fachstelle Kultur bei der Gemeinde Davos. Mit ihm tauchen wir nun in die Geschichte des Zehngerichtebund ein.
«Hier stehen wir am Hauptsitz der österreichischen Verwaltung, die für rund 150 Jahre über fast das gesamte Territorium des Zehngerichtebund herrschte», erklärt Christoph Luzi. Doch eigentlich hätte genau dies mit der Bundesgründung verhindert werden sollen. Nachdem bereits die früheren Territorialherren, die Freiherren von Vaz, ausgestorben waren, blieben auch deren Rechtsnachfolger, die Toggenburger, ohne männliche Erben. Man befürchtete, das Gebiet würde an Österreich zurückfallen. So schloss man sich eben 1436 zu einem Bund zusammen. «Schlussendlich konnte man sich dem österreichischen Zugriff aber nicht erwehren», fasst der Historiker die darauffolgende Entwicklung zusammen. Und so kam es, dass in Castels ab 1499 ein von Österreich eingesetzter Landvogt über acht Gerichte herrschte. «Meist stammte dieser Landvogt aus einer der herrschenden Bündner Familien», weiss Christoph Luzi. «Man darf sich darunter aber nicht ein böser Vogt vorstellen, der die Bevölkerung nur drangsalierte. Schlussendlich musste er ja mit den Bewohnerinnen und Bewohnern auskommen. Er war an ihrem Wohlergehen interessiert, denn schliesslich war er ja auch auf ihre Erträge angewiesen.» Wichtig in diesem Zusammenhang zu erwähnen sei auch, dass die Gerichtsgemeinden noch über relativ viel Souveränität verfügten, ergänzt der Historiker. «Die sogenannte niedere Gerichtsbarkeit lag bei den Gemeinden, sprich, ein Landammann – der gleichzeitig auch Richter war – konnte so Urteile über kleinere Händel fällen.» Bei schwereren Delikten habe die richterliche Gewalt – die sogenannte Blutgerichtsbarkeit – aber bei einem vom österreichischen Landesfürsten eingesetzten Malefizrichter gelegen.


Gewaltvolle Zeiten
Trotz einiger Freiheiten für die Gerichtsgemeinden: Die Österreicher übten ihre Herrschaft über ihr Territorium aus und schränkten die Rechte des Volkes zum Teil drastisch ein. Christoph Luzi nennt hierzu den Prättigauer Aufstand als Höhepunkt des Konflikts zwischen Bevölkerung und Herrschern. Die Kurzversion dieser Geschichte: Nachdem bereits in den 1520er-Jahren weite Teile des Zehngerichtebunds reformiert worden waren, wollten die österreichischen Herrscher eine Rekatholisierung erreichen. Um dies durchzusetzen, installierten sie Kapuziner, die die Menschen zurück «zum rechten Glauben» bringen sollten. Auch stationierte man österreichische Soldaten, die sicherstellen sollten, dass die Bevölkerung auch ja die Gottesdienste der Kapuziner besuchen. Die Prättigauerinnen und Prättigauer wollten sich dies nicht gefallen lassen. Der Konflikt entlud sich schlussendlich dadurch, dass man 1622 in Seewis den Kapuzinerpater Fidelis erschlug. Von dieser Gräueltat zeugen heute noch zwei Denkmäler im Dorf. «Seewis ist wohl einer der wenigen Orte, an dem es gleichzeitig ein Denkmal gibt von denjenigen, die hinter dem Opfer standen, und eines von denjenigen, die den Täter feierten», merkt Christoph Luzi an. Auch in Saas steht ein Denkmal, das an eine Episode des Prättigauer Aufstandes erinnert: Das Aquasana-Denkmal erinnert an die gleichnamige Schlacht, die ebenfalls 1622 ausgetragen wurde. Die Prättigauer unterlagen und mussten zwei weitere österreichische Invasionen (1623 bis 1624 und 1629 bis 1631) miterleben. Erst 1649 konnten sie sich von ihren Territorialherren loskaufen.
Aus 10 mach 13
Zwei der zehn Gerichte gingen schon viel früher einen eigenen Weg: Maienfeld und Malans wurden 1509 zum gemeinsamen Herrschaftsgebiet der Drei Bünde. Sie waren also Herr und Untertan zugleich – für unser heutiges Verständnis ein Kuriosum. Doch auch hier erinnert heute noch etwas an die damalige Situation: Die Bezeichnung «Herrschaft» für das Gebiet unterhalb der Chlus, rechtsseitig der Landquart.

Christoph Luzi wüsste noch viel zu erzählen über die weitere Entwicklung des Zehngerichtebunds. Infragestellung der Davoser Vorherrschaft im Bund, Hexenverfolgung, Helvetik und so weiter. Auch waren es mit der Zeit gar nicht mehr zehn Gerichte innerhalb des Bundes, sondern dreizehn: Schiers-Seewis teilte sich in zwei Halbgerichte, Klosters wurde in Inner- und Ausserschnitz aufgeteilt und auch aus Castels machte man zwei Einheiten: Castels-Luzein und Castels-Jenaz.
Was heute bleibt
Auch hier gibt es Parallelen bis in die heutige Zeit: «Die Gebiete dieser Gerichtsgemeinden entsprechen in etwa der Verteilung der noch heute gültigen Wahlkreise.»
Wir haben also schon allerlei entdeckt, das heute noch an den Zehngerichtebund erinnert. Denkmäler, Namen, Gebietsverteilungen. Doch gibt es noch mehr? Schliesslich prägten die Walser weite Teile des Gebietes. Mit dieser Frage hat sich auch Christoph Luzi befasst. Er war 2022 Projektleiter der Feierlichkeiten für das 800-Jahr-Jubiläum in Klosters. Dieses stand unter dem Begriff «Walserstolz und Weltgeschichten». Diesen Spannungsbogen – zwischen dem Festhalten an Traditionen und dem Offen-Sein für Neues – finde man auch heute noch, und genau dies sei eben typisch walserisch, findet der Klosterser. «Das Leben war hier früher sehr hart, denken wir nur schon an die Bewirtschaftung der steilen Alpweiden», holt er aus. «Zum Walser-Sein gehörte aber auch stets eine gewisse Anpassungsfähigkeit dazu.» Als Beispiel führt er den Bau der Rhätischen Bahn 1889 an, der zwar von einem niederländischen Kurgast von Davos aus initiiert und von den Einheimischen kritisch beäugt, aber eben trotzdem zugelassen wurde.
Apropos Eisenbahn: Die Mobilität war nicht erst seit dem Bau der RhB ein wichtiger Faktor im Zehngerichtebund. «Die Leute waren zu Zeiten der Bundesgründung viel mobiler, als wir heute denken», sagt Christoph Luzi. Genau diesem Thema widmet sich sein Historikerkollege Florian Hitz an einem Vortrag, der den Auftakt zum Bundstag in Davos vom 20. Juli macht. Es folgen «Davoser Debatten» in der historischen Grossen Stube des Rathauses, ein ausgedehnter Festumzug sowie weitere Attraktionen. Der Zehngerichtebund erlebt also zumindest für einen Tag ein regelrechtes «Comeback». Doch es lohnt sich, nicht nur dann einen Blick auf die abwechslungsreiche Geschichte des Bundes zu werfen: Ein Besuch bei einem der erwähnten Denkmäler oder ein Abstecher auf die Burg Castels, wo man ein wunderbares Panorama aufs Prättigau hat, ist allen empfohlen.
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