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«Auftritt: Suppe»

So steht es in der Regiean­weisung von «Being Thomas Mann». Das immersive Menü, wie es våon den Machern ­genannt wird, spielt geschickt auf der Trennlinie zwischen realer und virtueller Welt.

Südostschweiz
29.07.24 - 09:00 Uhr
Kultur
Sitznachbar für einen Abend: «Gestatten, Thomas Mann.»

Vor einem Jahr habe sie zusammen mit dem Regisseur Bernhard Mikeska Rückschau auf die erste Zusammenarbeit ­gehalten, erzählt Marietta Zürcher, Gastgeberin im Waldhotel Davos, dem gespannt wartenden Publikum. Zürcher, die immer wieder mit innovativen, neuen Formaten aufwartet, hatte schon 2022 zusammen mit dem Kunstkollektiv «Raum+Zeit» die Videoinstallation «Thomas Mann@Davos» realisiert. Sie hätten sich über ein mögliches neues Projekt im noch erhaltenen Speisesaal des Hotels nachgedacht, erzählt sie im Foyer des Waldhotels. Erhalten ja, aber halt nicht mehr original. Doch Fotos existierten noch, und so seien sie auf die Idee des immersiven Menüs gekommen, fasst Zürcher eine längere Geschichte zusammen. Immersiv ist heute alles: Ausstellungen, Ausbildung, ja sogar das Einkaufen. Doch ein Menü? Wie das heraus-gekommen ist, das wollen an der Generalprobe einige Mitglieder der Crew von «Raum+Zeit» sowie geladene Gäste erleben.

Thomas Mann wartet

Im alten Speisesaal ist an einer langen Tafel aufgedeckt. In der Mitte wartet Thomas Mann, das angebissene Brötchen akkurat quer über den Teller drapiert, die Kameraaugen beobachten die hereinkommenden Gäste. An jedem Platz liegt ausser dem Gedeck eine Videobrille. Nach einer kurzen Einführung in deren Gebrauch geht es los. Die Videobrille transportiert hundert Jahre zurück, und es treten Protagonisten aus Manns Roman «der Zauberberg» auf. Hans Castorp, ­Madame Chauchat, Mijnheer Pepperkorn, Naphta und ganz zum Schluss ­Thomas Mann persönlich. Es ist der Morgen nach dem Maskenball in Manns fiktiven Sanatorium Berghof. Der Morgen, an dem sich Castorp seiner Mutlosigkeit in der Nacht zuvor erinnert. Der Morgen, an dem sich Mme Chauchat ihren ganzen Frust von der Seele redet. Der Morgen, da Mijnheer Pepperkorn mit seiner Sterblichkeit ringt. Der Morgen, an dem Naphta über soziale Gerechtigkeit lamentiert und mit einem Knall abtritt. Selbst Thomas Mann vermag in der Situation nichts Gutes finden, führt die Tisch­gemeinschaft aber doch auf einem versöhnlichen Ton in die Realität zurück.

Wechsel zwischen virtuell und real

Zu Beginn braucht es einen Moment, sich in der virtuellen Welt zurechtzufinden. Mal sieht man sich den, die verschiedenen Personen verkörpernden, Schauspielern direkt gegenüber, mal schielt man über die Schulter oder reckt den Hals nach oben, wo die Figuren fast drohend über einem stehen. Und sie kommen einem nahe, so nahe, dass man versucht ist, mitsamt dem Stuhl nach hinten zu rücken, oder während einer ihrer Hustenanfälle laut schreien möchte: «Nimm ein Taschentuch». Laut werden jedoch nur die virtuellen Figuren, wenn sie befehlen «Brille ab!». Doch wie der Austausch fortschreitet, umso schneller führt man die Anweisungen aus, versteht den Ablauf, wird selber Teil des Ganzen. Wohl wissend, dass wieder ein weiterer Gang des sehr wohlschmeckenden Menüs vor einem steht. Während dieses genossen wird, kommt es unter den einander zum Teil wildfremden Gästen zu intensiven Gesprächen über das eben Erlebte. «Es ist eine sehr kommunikative Situation», urteilt eine Teilnehmerin. Doch schon wird man wieder aufgefordert, die Videobrille aufzusetzen. Drei Stunden vergehen so wie im Flug.

Wohin mit den persönlichen Sachen?

Für das Servicepersonal ging es bei dieser Generalprobe auch darum, herauszufinden, wie mit der sehr speziellen Situation umgegangen werden soll, aufzudecken, wenn sich alle Gäste am Tisch in einer völlig andern Welt befinden. Was tun, wenn die Brille oder das Handy da liegt, wo eigentlich die Suppe hin soll? Wie die Leute davon abhalten, die Videobrille in eben diese zu legen? Doch am Schluss hat alles gut geklappt. Einzig ganz zu Beginn ist ein Löffel laut scheppernd zu Boden gegangen. Küche-, Service- und Videoteam haben die Herausforderung gemeistert und kommen mit der Regieanweisung «Auftritt Suppe» gut zurecht.

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