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Von Davos zur Promenadologie

Wer war Lucius Burckhardt? Das Forum «Bau und Kultur» führte kürzlich mit den Burckhardt-Experten Markus Ritter und Martin Schmitz im Kulturplatz ein Vorstellungsgespräch.

Davoser
Zeitung
29.11.22 - 16:54 Uhr
Kultur
Martin Schmitz, Jürg Grassl und Markus Ritter im Vorstellungsgespräch.
Martin Schmitz, Jürg Grassl und Markus Ritter im Vorstellungsgespräch.
zVg

Das Lucius Burckhardt in Davos geboren und aufgewachsen ist, war bisher im Lebenslauf des als Spaziergang­wissenschaftler bekannt gewordenen ­Soziologen, Künstlers und Urbanismus-Pioniers bloss eine Randnotiz. Auch in Davos ging er vergessen. Die Schreibweise seines Namens verortet ihn jedoch ­offensichtlich in einer Basler Patrizier-Familie. Die Familie Burckhardt war 1919 nach Davos gekommen, als Vater Jean Louis die Chefarztstelle an der Basler Klinik antreten sollte, wusste Markus Ritter, ein ehemaliger Weggefährte und Leiter der Burckhardt-Stiftung in Basel, zu berichten. Doch Jean Louis hatte Grösseres vor: Bereits 1922 eröffnete er sein «Kindersanatorium Pro Juventute» an der Buolstrasse. Das neue Sanatorium in den bestehenden Häusern bot schon bald Platz zur Unterbringung von 250 kur­bedürftigen Kindern.

In eine Fussgängerstadt geboren

1925 wurde Lucius als Nachzügler in die Familie geboren, acht Jahre nach der Jüngsten seiner drei Schwestern. Als er zur Welt kam, war Davos durch und durch eine Fussgängerstadt, wie Jürg Grassl anhand historischer Aufnahmen veranschaulichte. Der Verschönerungsverein hatte Spazierwege und mondäne Promenaden angelegt. Die Kurärzte verordneten nicht nur das Liegen, sondern auch Spaziergänge. Das Autofahren war in Graubünden noch verboten.

Bereits ein Jahr später bezog die Familie ihr neues Zuhause: Die von Rudolf Gaberel erbaute Villa Burckhardt, welche als Pionierbau der Moderne internationale Beachtung fand. Das von aussen radikal kubische Wohnhaus war innen noch vom bürgerlichen Wohnen des 19. Jahrhunderts geprägt – Täfer, Tapeten, Stuck und sogar Kreuzgewölbe. Dieser Spagat zwischen konservativ und progressiv sei ­    typisch für die Familie Burckhardt, wusste Markus Ritter zu berichten.

Der Weltkrieg im Klassenzimmer

Der Vater steckte den jungen Lucius mit seiner naturwissenschaftlichen Begeisterung an. Die Mutter lehrte ihn zeichnen und aquarellieren. Als Schüler am Fridericianum erlebte Lucius Burckhardt den Zweiten Weltkrieg hautnah. «Wir müssen zusammenhalten», appellierte ein niederländischer Schüler an seine vornehmlich deutschen Mitschüler, nachdem die Nazis Holland überfallen hatten. Für die Matura musste Lucius nach Schiers wechseln, da der Abschluss am Fridericianum in der Schweiz nicht mehr anerkannt war. 1943 verstarb der Vater unerwartet früh, und die Familie kehrte nach Basel zurück, wo Lucius unterdessen sein Studium angetreten hatte.

Als in Basel ein Teil der gotischen Altstadt für eine neue Zufahrtstrasse niedergerissen werden sollte und sich niemand dagegen wehrte, trat der 25-jährige Lucius im Abstimmungskampf gegen das ganze Establishment der Stadt an.

Vordenker der Stadtplanung

In den 50er-Jahren schmiedete er mit Max Frisch während eines Ferienaufenthalts im Davoser Elternhaus einen verrückten Plan: Statt temporärer Bauten für die Expo 1964 schlugen sie vor, eine neue, vorbildliche Stadt zu gründen. Dafür forderten sie eine radikal neue Form von Beteiligung und demokratischer Beschlussfassung. «Warum überlässt die Gesellschaft die Stadtplanung den Liegenschaftsspekulanten und Beamten der Bauverwaltung? Woher kommt es, dass die Stadtentwicklung so stark von verborgenen Kapitalinteressen und nicht von den Anforderungen der Bewohnerschaft gelenkt wird?» fragten sie. Mit ihrem Credo «Wir selber bauen unsere Stadt» stiessen sie die Schweiz vor den Kopf. Doch die Planungsdiskussion öffnete dem Soziologen Burckhardt die Tür zur Chefredaktion der Architekturzeitschrift «Werk» und zur ETH Architekturabteilung. Diese war damals im Zürcher Globusprovisorium untergebracht und stand 1968 plötzlich im Brennpunkt der Zürcher Unruhen. Burckhardt stellte sich auf die Seite der Studierenden, die mehr Mitbestimmung forderten, und liess sie die Aufgabenstellungen für ihre Entwurfsarbeiten selber bestimmen. Statt eines Bauwerks entwickelte ein Student eine computergestützte Lernumgebung, um Schulschliessungen in abgelegenen Bündner Dörfern entgegenzuwirken. «Gutes Design ist unsichtbar» nannte dies Burckhardt. Martin Schmitz erklärte: «Oft sind unsichtbare Faktoren wichtiger als die Gestaltung, wie zum Beispiel beim Wohnungsbau die Miete.»

Links: die Villa Burckhardt. Rechts: Alles war auf der Promenade unterwegs ausser Autos: Die waren bis 1925 in Graubünden verboten.
Links: die Villa Burckhardt. Rechts: Alles war auf der Promenade unterwegs ausser Autos: Die waren bis 1925 in Graubünden verboten.
zVg

Den Spaziergang zur Wissenschaft gemacht

Schmitz war Ende der 70er-Jahre selber Student bei Lucius Burckhardt an der Universität in Kassel. Vom Mentor wurde Burckhardt zum Freund. Schliesslich trat Schmitz gar als Professor in Kassel in dessen Fussstapfen. Burckhardt erfand dort die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie, um die Wahrnehmung für die Umgebung zu schärfen. Zur Erklärung: Der Spaziergang als Werkzeug hilft, Zusammenhänge zu erkennen und für den Umgang mit der Umgebung zu sensibilisieren. Landschaft ist ein Konstrukt, das im Kopf entsteht. Dies entlarvte der Ur-Spaziergang «Die Fahrt nach Tahiti». Dabei führten die Burckhardts Studenten entlang der Landschaftsbeschreibungen von Kapitän Cooks Tahiti-Entdeckungsreise über einen Truppenübungsplatz irgendwo im Nirgendwo: Das Erstaunliche: Man sieht, was man hört, auch wenn die Karibik eigentlich weit weg ist.

Davos’ Einfluss auf Burckhardt

Schlussendlich war Burckhardt ein Lehrer durch und durch, resümierte Markus Ritter. «Seine grosse Leistung war es, die komplexesten Themen in einfacher Sprache und humorvoll vermitteln zu können. Während die frühen Streitschriften viel Polemik auslösten, lieferten die kunstvollen Interventionen auf humorvolle Weise subtile Denkanstösse.» Martin Schmitz bündelte als Verleger Burckhardts Essays zu Themenbüchern, und diese wurden zur Pflichtlektüre für angehende Soziologen, Urbanisten und Architekten. Es macht sie aber auch zugänglich für das breite Publikum. Heute findet Burckhardts Wirken mehr Beachtung denn je.

Der Abend zeigte eindrücklich auf, wie der Zeitgeist im Geburtsort Davos das spätere Wirken von Burckhardt als Promenadologe beeinflusst haben könnte, bilanzierte Markus Ritter: «Da müssen wir nun weiterforschen.» Zur Frage, was Burckhardt wohl heute zu seiner Geburtsstadt sagen würde, fiel Martin Schmitz eine Anekdote ein, die ihm Burckhardts Ehefrau einmal anvertraut hatte. Das damals neue Silvretta-Center muss Lucius Burckhardt bei seiner letzten Ankunft am Bahnhof Platz regelrecht erschlagen haben. «Ein Grund mehr, um nicht mehr nach Davos zu fahren», solI er konsterniert gesagt haben. Im letzten Lebensabschnitt wurde Bergün zum Bündner Refugium für die Burckhardts.

Link zu Burckhardts Büchern:

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