×

Christoph Marthaler dekonstruiert am Theater Basel den «Freischütz»

Von der schunkelnden Jäger-Romantik bis zum höllischen Jammertal: Regiestar Christoph Marthaler dekonstruierte am Theater Basel Carl Maria von Webers urromantisches Opernmärchen «Der Freischütz». Am Donnerstag war Premiere.

Agentur
sda
16.09.22 - 13:28 Uhr
Kultur
Die grosse Einsamkeit im Schützenverein: Szenenbild aus Christoph Marthalers Inszenierung von "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber.
Die grosse Einsamkeit im Schützenverein: Szenenbild aus Christoph Marthalers Inszenierung von "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber.
Theater Basael/Ingo Höhn

Es gibt Opernwerke, die doch sehr aus der Zeit gefallen erscheinen. Carl Maria von Webers «Der Freischütz» gehört da sicherlich dazu. Und doch sorgt die einzigartige Musik, die zwischen operettenhaftem Gassenhauer und aufwühlender Romantik hin- und herpendelt, dafür, dass das 1821 uraufgeführte Werk noch immer zu den meistgespielten Werken im Musiktheaterrepertoire gehört.

Kaum jemand wird es aber wagen, das mythologisch aufgeladene Schauermärchen um den Schützen, der beim Leibhaftigen Zauberkugeln bestellt, um sich den Weg zu seiner Geliebten freischiessen zu können, ungebrochen nachzuerzählen. Das Theater Basel hat mit Marthaler zum Spezialisten der verschrobenen Dekonstruktion gegriffen.

Marthaler hat in der Männerbundwelt der Jäger- und Schützenvereine zu seinem Urthema der Vereinsamung der Menschen gefunden, das er auf gewohnt tragikomische Weise zelebriert. Seine treue Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock hat einmal mehr die passende Umgebung dafür geschaffen: ein angestaubter Vereinssaal mit Bühne im Hintergrund, wo der in dieser Oper so präsente Chor unvermittelt auftauchen und wieder verschwinden kann.

In diesem Saal sitzen nun die Protagonistinnen und Protagonisten, leer hinter Bierhumpen und Maggiflaschen vor sich hin starrend, an ihren vereinzelten Tischen. Mit dabei das Liebespaar Max und Agathe, das sich aber nur aus ganz grosser Entfernung ansingen kann und dem hier auch das Deus-ex-Machina-Happy-End der Oper verwehrt bleibt.

Im Schützen Max hat Marthaler auch seinen Archetypen des geradezu auf tragische Art unheldenhaften Helden gefunden. Ihm will auch gemäss Originallibretto gar nichts gelingen, schon gar nicht der geforderte Schuss ins Schwarze. In einer urkomischen Szene scheitert Max an der Schussabgabe, weil sein Jagdgewehr bei jedem Versuch, es zu laden, in seine Einzelteile zerfällt.

Solche abstrus-komischen Szenen sind Marthalers Stärke, die auch hier voll zur Geltung kommen. Dazu gehört das regelmässige Aufploppen der berühmten Jägerchorszene. Diese wird einmal wie ein Intermezzo an der Bühnenrampe mit grosser Chorbesetzung und Orchesterbegleitung dargebracht. Dann aber wiederholt A capella in die Bierhumpen hinein genuschelt. Einmal von den Protagonisten auf der Bühne, ein anderes Mal vom Orchester, das hier seine Instrumente ruhen lässt.

Lustvoll aufspielendes Kammerorchester

Nuschelnd mit dabei ist der Dirigent Titus Engel, der das spürbar lustvoll aufspielende Basler Kammerorchester zu Höchstleistungen antreibt - bis zum furios ins Disharmonische kippende Crescendo am Schluss. Und es auch immer wieder pausieren lässt. Etwa in der ebenfalls berühmten Chorszene der Brautjungfern, die hier aber zum rührend komischen Solo von Rosemarie Hardy als Ännchen eingedampft wurde, die sich selber auf dem Klavier begleitet.

Die grösste Überraschung der Inszenierung aber ist die berüchtigte Schauerszene in der Wolfsschlucht, wo sich Max mit teuflischer Unterstützung die magischen Kugeln giessen lässt. Hier verzichtet Marthaler ganz auf eine ironische Hintertreibung. Hier lässt er der düsteren Romantik der Musik den vollen ernsthaften Raum.

Nicht immer gelingt es der Inszenierung, die zum Teil hinreissenden Einzelszenen zu einem Ganzen zu verbinden, ab und zu wirken die Leerstellen dazwischen doch arg leer.

Doch nicht zuletzt die hochkonzentrierte Hingabe der musikalisch und schauspielerisch überzeugenden Protagonistinnen und Protagonisten trösten darüber hinweg. Gerne folgt man den Schicksalen der aus der Zeit gefallenen Figuren: von der gefeierten Sopranistin Nicole Chevalier als verhuschte Braut über Antihelden-Tenor Rolf Romei bis zum Mathaler-Urgestein und grossen Jägerlateiner Ueli Jäggi.

Das Premierenpublikum feierte die Inszenierung am Donnerstag mit lang anhaltendem Applaus.

Die Kommentarfunktion wurde für diesen Artikel deaktiviert.
Mehr zu Kultur MEHR