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In Davos dreht sich alles um die Sonne

Tabea Steiners Suche nach einer aussergewöhnlichen Schweizer Stadt führte sie nach Davos.

Davoser
Zeitung
16.09.21 - 07:00 Uhr
Kultur
Gerhard Richters vernebeltes Davos Bild brachte Tabea Steiner der Davoser Sonne näher.
Gerhard Richters vernebeltes Davos Bild brachte Tabea Steiner der Davoser Sonne näher.
zvg

Der Schweizerische Städteverband feiert sein 100-Jahr-Jubiläum. Aus diesem Anlass hat er junge Schweizer Schriftstellerinnen eingeladen, Portraits über Schweizer Städte zu schreiben. Die Ostschweizer Autorin und Kulturtreiberin Tabea Steiner ist eine der Auserwählten. Ihre Suche nach einer aussergewöhnlichen Schweizer Stadt führte sie nach Davos. Am vergangen Samstag präsentiere sie im «Forum Bau+Kultur» die Früchte ihrer Arbeit und stellte sich der Diskussion.

Zum Einstieg entführte sie die Zuhörerschaft in das Dorf, an dem ihr Erstlingsroman «Balg» spielt. Dem Dorf kommt im Roman eine zentrale Rolle zu, es ist mehr als nur Schauplatz, sein Charakter prägt die Geschichte ebenso wie die Protagonisten. «Das fiktive Dorf habe ich mir Schritt für Schritt erträumt», erklärt die Autorin. «Dafür habe ich wie eine Stadtplanerin viele Pläne und Skizzen gezeichnet und für Strassen sogar Verkehrsregeln erfunden.» Obwohl die literarischen Orte sorgfältig konstruiert sind, am Schluss müssen wenige Buchstaben reichen, um die Lesenden mit den Räumen vertraut zu machen.

Nach Davos führte Tabea Steiner ein Bild. In einer Ausstellung im Zürcher Kunsthaus hing kürzlich zwischen den monumentalen Landschaftsmalereien des bedeutendsten zeitgenössischen Malers Gerhard Richter ein kleines Ölbild mit dem Titel «Davos». Ein Foto im Winter 1971/72, mit Teleobjektiv vom Jakobshorn aus aufgenommen, diente als Vorlage für das 1981 gemalte, ergreifende Ölbild. Es zeigt, wie die Davoser Sonne über der felsigen Schrättenflue vom Winterwetter fast verschluckt wird. Mit einem Foto von diesem Bild im Gepäck reiste Tabea Steiner im Juli eine Woche zur Recherche nach Davos.

Stadt und Landschaft

Dass die Davoser Sonne zum roten Faden im Text werden würde, habe sie da aber nicht geahnt. «Bisher kam ich nach Davos stets wegen der Landschaft, doch da war auch diese Stadt», erklärt Steiner. «Stadt?», murrt es im Publikum. Statistisch gesehen hat Davos schon seit über 100 Jahren mehr als 10 000 Einwohner, in der Hochsaison tummeln sich hier sogar weit über 30 000 Leute, doch im Selbstverständnis der Davoser Bevölkerung blieb Davos stets Dorf, genau gesagt Dorf, Platz und Aussenfraktionen. In der Diskussion mit dem Publikum wurde schnell klar, dass Einheimische und Wahldavoser nicht einfach keine Stadt sein wollen, sondern dass Davos eben mehr als bloss eine Stadt ist. Es sind solche Erkenntnisse oder «Geschenke», wie Steiner sagt, die sie ihren Davoser Auskunftspersonen verdankt. «Nichts musste ich erfinden, alles war schon da.» So ist der Text ebenso dicht und reichhaltig geworden wie die Stadt Davos und ihre Geschichte. Und eben auch ganz anders als ihre ­anderen Texte, wie die Autorin bekräftigte.

Das Davoser Sonnensystem

In Davos dreht sich alles um die Sonne, so ihre Erkenntnis. Sie ist das stetige Schwungrad der Davoser Prosperität. Ihr frönen die sonnenhungrigen Wintergäste aus dem nebelverhangenen Unterland. Ja sogar die Davoser Häuser wenden sich wie Pflanzen der Sonne zu. Dass im Luftkurort eigentlich die Sonnenstrahlung für Heilerfolge sorgte, weiss man noch gar nicht so lange, obwohl am Davoser Physikalisch Meteorologischen Observatorium schon seit über 115 Jahren die Sonnenstrahlung erforscht wird. In den nächsten Wochen versammeln sich hier wieder Pyrgeometer, Pyrheliometer und Radiometer aus der ganzen Welt zur Kalibrierung: Alle Sonnenmessgeräte werden an der Davoser Sonne «geeicht». Dieses «Davoser Sonnensystem» wurde Tabea Steiners Schlüssel zum Verständnis der Stadt: «Je mehr ich über Davos wusste, desto mehr war ich von Davos begeistert.» bekundete sie unter einhelliger Zustimmung des Publikums.

Die Sonnenstadt im Nebel

Dass der Text zwischen den Zeilen aber auch Kritik am System Davos anbringt, reiht ihn ein in eine Reihe von legendären literarischen Davos-Berichten, die nicht nur das Unterland und das Ausland auf Davos aufmerksam machten, sondern auch den Davosern die Augen öffneten. Ganz anders als Richters Bild, auf dem die Sonne in den Nebelschwaden fast erstickt, stellt Steiner Davos eine weiterhin sonnige Zukunftsperspektive in Aussicht. Ihr Davos-Text wird in der November-Ausgabe des Magazin «Reportagen» erscheinen, das es an jedem guten Kiosk zu kaufen gibt. Zum Schluss gab es dann mit «Streuobst» noch eine nigelnagelneue, typische Steiner-Geschichte: Wo viele persönliche Erfahrungen, aber auch Erfundenes – «Gelogenes» – drinsteckt, wie Tabea Steiner schelmisch erklärte.

Nächste Veranstaltung «Forum Bau+Kultur»

Samstag, 16. Oktober, 20 bis 22 Uhr: «Zur Erbauung gebaut – eine Forschungsarbeit & Diskussion».

Die Tuberkulose und der Kampf ­dagegen formten vor 100 Jahren eine radikal neue Architektur. In ihrer ­Diplomarbeit «Licht – Luft – Sonne» an der TU Wien untersuchte Maria Harman die europäische Sanatoriumsarchitektur und ihren Einfluss auf die Moderne der Zwischenkriegszeit.

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