×

Wie ein Journalist in eine Zugsentführung verwickelt wurde

Die schweizweit erste Zugsentführung hat sich in Graubünden ereignet. Sie ging glücklicherweise unblutig aus. Denkwürdig war der Tag für den Journalisten und Fotografen Theo Gstöhl.

Patrick
Kuoni
03.08.24 - 16:00 Uhr
Graubünden
Tatwaffe: Mit dieser Luftpistole hat der Zugsentführer den RhB-Lokführer bedroht. 
Tatwaffe: Mit dieser Luftpistole hat der Zugsentführer den RhB-Lokführer bedroht. 
Bild Archiv

Den Abend des 26. Novembers 1996 wird Theo Gstöhl, Journalist und Fotograf, wohl nie mehr vergessen. Er erhielt damals einen Anruf eines Mediensprechers der Kantonspolizei. Der Grund: Ein Zug der Rhätischen Bahn wurde entführt und der Entführer wolle mit ihm sprechen.

Lokführer mit Luftpistole bedroht

Aber der Reihe nach: Ein damals 33-jähriger Bündner hat nach dem Konsum von reichlich alkoholischen Getränken an diesem Tag beschlossen, mit der RhB zu fahren. So weit, so normal. Er wollte dies aber im Führerstand tun. Mit einer Luftpistole macht er sich deshalb auf den Weg zum Churer Bahnhof. Er besteigt einen Zug und gelangt in die Führerkabine und droht dem Lokführer mit der Luftpistole. Dass es sich um eine Luftpistole handelt, ist allerdings dem Lokführer nicht klar. Und dementsprechend hat auch die Polizei zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von der Art der Waffe.

Der Lokführer fährt wie vom Entführer gefordert los. Bereits vor Reichenau endet die Fahrt aber. Denn der Lokführer hat ein Haltesignal missachtet. Dadurch hält der Zug automatisch an. Im Zug befinden sich zu diesem Zeitpunkt gegen 200 Passagiere. Vom Bahnhof Reichenau aus gelingt es, über Funk Kontakt zum Entführer aufzunehmen. Auf die Frage, was er denn mit dieser Entführung erreichen wolle, antwortet der 33-Jährige, dass er mit einem Journalisten sprechen wolle. Thema: Missstände in der Psychiatrie. Der Mann war am Vortag aus der Psychiatrischen Klinik Waldhaus entlassen worden. Er sei dort misshandelt worden und wolle mit seiner Entführung auf seine Lage aufmerksam machen, erklärt er.

Entführer verlangt nach Theo Gstöhl

Und hier kommt Journalist Gstöhl ins Spiel. Der Entführer verlangt explizit nach ihm. Und damit sind wir wieder am Anfang der Geschichte. Gstöhl wird von der Polizei gebeten, nach Reichenau zu kommen. Gegenüber unserer Zeitung schildert er, was vor Ort abgelaufen ist: «Im Stationsgebäude setzte ich mich ans Funkgerät und nahm Kontakt mit dem Entführer auf, der sich im Führerstand der Lokomotive befand. Ich stellte mich vor, worauf er antwortete, es könne sich am Funk jeder als Theo Gstöhl ausgeben. Ob ich zu ihm in die Lok kommen und mich ausweisen könne. Ich solle auch eine Flasche Coca Cola und Zigaretten mitbringen.»

Dies liess die Einsatzleitung der Polizei aber nicht zu, um eine zweite Geisel neben dem Lokführer zu verhindern. «So fragte ich ihn, was er denn von mir wolle. Er wollte, dass ich in der Zeitung über die Missstände in der Psychiatrie berichte. Worauf ich ihm erklärte, dass wir dies auch bei einem Kaffee hätten besprechen können.»

Mittendrin statt nur dabei: Theo Gstöhl im Gespräch mit dem Zugsentführer. 
Mittendrin statt nur dabei: Theo Gstöhl im Gespräch mit dem Zugsentführer. 
Pressebild

Im Hintergrund laufen während dieser Gespräche verschiedene Aktionen. Zum einen werden die Personenwagen von der Lokomotive abgehängt und mit einer anderen Lokomotive zurück nach Domat/Ems gezogen. Im Bahnhof Reichenau wird alles vorbereitet, um die Lokomotive abzufangen. Zum anderen bringen sich rund 30 Polizisten, darunter vermummte Polizeigrenadiere, in Stellung. Schliesslich wird die Einfahrt der Lokomotive in den Bahnhof freigegeben, ein anderer Zug versperrt die Weiterfahrt. Eine ebenfalls zum Ort gerufene Untersuchungsrichterin nimmt am Bahnhof über ein Megafon Kontakt mit dem Entführer auf. Rund vier Stunden nach Abfahrt des Zugs in Chur, und nachdem die Untersuchungsrichterin ihm ein Gespräch zugesichert hat, ergibt sich der Entführer schliesslich.

Auch Theo Wasescha, ein langjähriger Mitarbeiter der Kantonspolizei Graubünden, war bei der Zugsentführung 1996 dabei und erinnert sich im Interview mit Radio Südostschweiz zurück.

Doch keine Missstände

Später wird bekannt, dass der Entführer zwischen 2,32 und 3,32 Promille Alkohol im Blut hatte. Von den Missständen in der Psychiatrie rückt der Täter später ab. Er habe einfach kein Geld für ein Bahnbillett gehabt, begründet er.

Im Dezember 1996 wird der Angeklagte nach Entlassung aus der Untersuchungshaft in eine Trinkerheilanstalt versetzt. Im Frühjahr 1997 wird er schliesslich wegen Freiheitsberaubung und Störung des öffentlichen Verkehrs zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt. Die schweizweit erste Zugsentführung endet unblutig, aber mit bleibenden Erinnerungen für Gstöhl und den Lokführer.

Die Serie
In unregelmässigen Abständen blickt unsere Redaktion in die Vergangenheit und erzählt die Geschichten von spektakulären oder speziellen Kriminalfällen aus dem Kanton Graubünden. 

Patrick Kuoni ist Redaktor bei Südostschweiz Print/Online. Er berichtet über Geschehnisse aus dem Kanton Graubünden. Der Schwerpunkt seiner Berichterstattung liegt auf den Themenbereichen Politik, Wirtschaft und Tourismus. Wenn er nicht an einer Geschichte schreibt, ist er als einer der Tagesverantwortlichen für die Zeitung «Südostschweiz» tätig. Patrick Kuoni ist in Igis (heutige Gemeinde Landquart) aufgewachsen und seit April 2018 fester Teil der Medienfamilie Südostschweiz.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Könnte euch auch interessieren
Mehr zu Graubünden MEHR
prolitteris