Perspektivenwechsel im Heimatmuseum
Vom 15. Mai bis 15. Juni feiert die Schweiz 20 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz und 10 Jahre UNO-Behindertenrechtskonvention. In Rahmen dieser nationalen Aktionstage lädt das Heimatmuseum Davos Mittel- und Oberstufenklassen zu einem Perspektivenwechsel ein: «Wenn Sehen keine Selbstverständlichkeit ist».
Vom 15. Mai bis 15. Juni feiert die Schweiz 20 Jahre Behindertengleichstellungsgesetz und 10 Jahre UNO-Behindertenrechtskonvention. In Rahmen dieser nationalen Aktionstage lädt das Heimatmuseum Davos Mittel- und Oberstufenklassen zu einem Perspektivenwechsel ein: «Wenn Sehen keine Selbstverständlichkeit ist».

Konzentriert lauschen die Schülerinnen und Schüler der Sozialpädagogin Helene Zimmermann und dem Physiotherapeuten Josef Camenzind, wenn sie ihre persönliche Erblindungsgeschichte und verschiedene Formen von Sehbehinderungen erklären. In Gruppen vertiefen sie anschliessend das Gehörte. Mit entsprechenden Brillen ausgerüstet, fühlen sich die Teenager unter Zimmermanns Anleitung in ein langsames Erblinden ein und tasten sich durch die Herrenstube des Davoser Heimatmuseums. Unter den erschwerten Bedingungen will anschliessend das Ausfüllen eines Lückentextes kaum gelingen. Zu Beginn noch zögernd, dann immer mutiger, fragen sich die Jungen durch Zimmermanns Welt. «Wow, ich hätte nie gedacht, dass so ein Blindenhund rund 65 000 Franken kostet», zieht der ruhig unter dem Tisch liegende Aiko die Aufmerksamkeit auf sich.

In der Prunkstube einen Stock weiter oben hat sich eine zweite Gruppe um Camenzind herum eingefunden. Der ehemalige Lehrer der speziell für Blinde entwickelten Braille-Schrift liest die Geschichte des Museumsgebäudes vor. Dazu lässt er die Finger über die erhabenen Punkte auf der Tastatur seines Computers gleiten. Bald schon sind die jungen Leute an der Reihe und versuchen, mit dem fremden Alphabet Worte in bereitgelegte Papiere zu stechen. Camenzind liest vor, was geschrieben wurde. «Es muss sehr schwierig sein, das neu zu lernen», bemerkt jemand beeindruckt.

Derweil sitzt eine weitere Gruppe in der Milchküche und lässt sich riechend, tastend und schmeckend in die traditionelle Esskultur der Walser entführen. Höhepunkt ist eine Verkostung zum Schluss.
Im Heimatmuseum Davos wird «Wenn Sehen keine Selbstverständlichkeit ist» als Erlebnisführung für sehende und sehbeeinträchtigte Menschen und als Schulerlebnis für Kindergarten und Unterstufe regelmässig angeboten. Im April und Mai wird das Erlebnis durch die Präsenz der blinden Vermittler Zimmermann und Camenzind verstärkt und erreicht die Kinder noch unmittelbarer. «Mit der Lerneinheit sollen Berührungsängste abgebaut und die Begegnung mit blinden Menschen ermöglicht werden», beschreibt Helene Elmer vom Schulteam des Museums, die Hauptverantwortliche für das Projekt, das Ziel. An die 150 Schülerinnen und Schüler hätten inzwischen an der Vermittlung teilgenommen, sagt sie, und: «Auf die Frage, was sie ohne Sehkraft am meisten vermissen würden, erwähnte erstaunlicherweise niemand das Handy.»

Ganz im Gegenteil. «Es war megacool, und erst jetzt habe ich realisiert, dass es jeden treffen kann», stellt ein Schüler im Anschluss fest. «Ich habe mehr Respekt bekommen und würde jetzt eher meine Hilfe anbieten», sagt eine andere, und jemand weiteres stellt fest: «Ich war sehr beeindruckt, wie sie [die beiden Vermittelnden] so gut wie möglich mit ihrer Blindheit zurechtkommen.» Unmittelbar betroffen fühlte sich eine andere Schülerin: «Es war sehr spannend, den Alltag von Blinden zu ‹sehen› und herauszufinden, wie es sich anfühlt, blind zu sein.» Sie seien begeistert von dem knapp dreistündigen Anlass melden, auch die Klassenlehrpersonen zurück: «Unser aller Perspektive wurde vergrössert, und wir konnten Berührungsängste blinden Menschen gegenüber abbauen.» Jemand anderes bemerkt: «Wir waren gleichzeitig geschockt und beeindruckt ob der eindrücklichen Situationen, denen Sehbehinderte tagtäglich begegnen, und der Herausforderungen, die sie immer wieder zu meistern haben.» Nach dem Besuch der Lerneinheit sei das Thema für ihre Klasse noch keineswegs beendet gewesen, meldet eine Lehrerin: «Der Morgen bei euch im Heimatmuseum war äusserst bereichernd und besonders durch die Anwesenheit und die Geschichten von Helene und Josef beeindruckend. Ich weiss, dass die Kinder durch die drei verschiedenen Posten einen vielfältigen Eindruck bekommen durften und zu Hause viel zu erzählen hatten. Ebenfalls konnten wir noch lange in der Schule über die Eindrücke sprechen und über die Blindheit und das Sehen philosophieren.»

Austausch ist bereichernd
Auch für die beteiligten blinden Vermittelnden ist der Austausch mit den jungen Menschen immer wieder bereichernd. «Es war für mich jeden Tag neu beeindruckend, wie engagiert sich alle Klassen nach Abbau der ersten Berührungsängste motiviert auf das Thema eingelassen haben. Dass Vermittlung über das Heimatmuseum und gleichzeitig eine Sensibilisierung für die Situation sehbehinderter und blinder Menschen stattfinden kann, betrachte ich als grosse Stärke unseres Konzeptes», stellt Zimmermann fest, die an der Entwicklung beteiligt war. Von einer Win-win-Situation spricht Josef Camenzind: «Das Programm rückt das Thema ‹Wenn Sehen keine Selbstverständlichkeit ist› in den Mittelpunkt und fordert die Jugendlichen heraus, sich direkt mit der Situation einer Sehbehinderung in verschiedenen Bereichen auseinanderzusetzen.» Auf der anderen Seite hätten sie als Direktbetroffene die Möglichkeit, ihre durch eine Sehbehinderung erfahrenen Einschränkungen darzulegen, fährt er fort und schliesst mit einem Lob: «Von den Schulklassen habe ich grosses Interesse an dieser Themenstellung erfahren und bin begeistert, wie gut die Aufgaben bei den jeweiligen Arbeitsabläufen aufgenommen wurden.» (pd)
Weitere Angebote des Heimatmuseums für die Schule unter https://www.heimat-museum-davos.ch/schule-und-museum
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