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Nach der Chilbi hatte er ein Messer im Bauch – und liebt sie trotzdem noch

Vor dem Glarner Obergericht stand eine Frau, die 2017 ihrem Partner ein Messer in den Bauch rammte. Das Opfer selber spricht von einem Unfall, der Staatsanwalt von versuchter vorsätzlicher Tötung. 

Fridolin
Rast
24.01.23 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Liebeskarussell mit Folgen: Nach einem Chilbibesuch gerät ein Paar in einen Streit, bei welchem die Frau ihren Freund mit dem Messer verletzt.
Liebeskarussell mit Folgen: Nach einem Chilbibesuch gerät ein Paar in einen Streit, bei welchem die Frau ihren Freund mit dem Messer verletzt.
Symbolbild

Das Paar war damals seit zwei Jahren zusammen, im September 2017 ging es zusammen an die Chilbi Näfels. Der Abend wurde eine Tour durch mehrere Bars, beide hatten ziemlich viel Alkohol intus, wie die Blutwerte von damals belegen. Auf dem Heimweg kam es zum Streit, unter anderem wegen der Ex-Frau des Mannes. Eifersucht befeuerte den Konflikt.

Der Streit eskalierte, als die Frau mit dem Auto nach Mollis heimfahren wollte und ihr Partner sie wegen ihrer Fahrweise mit der Handbremse stoppte. Darauf fuhr er, man stritt weiter, und beide wurden handgreiflich. Sie kamen kurz nach Mitternacht zu Hause an, und in der gemeinsamen Wohnung rammte die Frau ihrem Partner ein 18 Zentimeter langes Messer in den Bauch. Er ging ein paar Schritte, sank aufs Sofa. Sie alarmierte den Notruf und drückte ihm ein T-Shirt in die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Wegen Verletzungen des Dünndarms musste der Mann innert des folgenden Monats sechsmal operiert werden, ein halbes Jahr später noch ein siebtes Mal. 

Das Kantonsgericht hat die Frau Ende September 2021 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verurteilt. Dagegen hat die zur Tatzeit 30-jährige Polin Berufung eingelegt, sodass nun das Obergericht über den Fall verhandelt hat. Rekurriert hat auch der Staatsanwalt, wie schon vor erster Instanz fordert er statt der Strafe von vier Jahren sieben Jahre. 

Die Frau und ihr Partner sind zwar als Täterin und Opfer vor Gericht erschienen. Doch vor der Verhandlung haben sie sich als liebend zugewandtes Paar innig umarmt. Er habe ihr längst verziehen, wird der Mann später dem Gericht erklären.

«Die Frau meines Lebens»

«Es war ein Unfall», zu dem «viele Verkettungen» an dem Tag geführt hätten, sagt er weiter, «sie wollte mich nicht töten.» Mit der Verurteilung seiner Partnerin durch das Kantonsgericht sei für ihn selber eine Welt zusammengebrochen. Und mit einem innigen Blick zu ihr: «Für mich ist sie die Frau meines Lebens, sie hat mir immer geholfen.» Die beiden leben auch heute zusammen, und sie sind aus dem Kanton Glarus weggezogen.

Die Frau gab laut dem erstinstanzlichen Urteil zwar von Anfang an zu, ihrem Partner mit dem Messer in den Bauch gestochen zu haben, sie hat aber laut der damaligen Aussage «in einer äusserst erregten Gemütsbewegung» gehandelt. Sie habe auch nicht wuchtig zugestochen und ihren Partner weder töten noch verletzen wollen.

Vor dem Obergericht erklärt die Frau nun, sie sei zum Ablauf «der gleichen Meinung wie mein Mann». Sie könne wenig zu den Momenten vor der Tat sagen, sie habe keine Erinnerung daran, sie habe ein Blackout gehabt. Sie habe das Messer in der Hand gehabt, um eine Zitrone zu schneiden – wie immer wenn sie viel Alkohol getrunken habe – und den Saft mit Wasser zu trinken. 

Vorher hätten sie sich plötzlich gestritten, wie damals öfter. Ihr Freund habe damals alle Zeit in seine eigene Firma gesteckt, erzählt sie. Er habe ihr anfangs nicht nur seine frühere Ehe verheimlicht, sondern auch, dass er die Exfrau weiter unterstützt und mit ihr Kontakt gehabt habe. «Er hat damals auf meine Bedürfnisse keinerlei Rücksicht genommen», er sei oft Stunden später als vereinbart aus der Werkstatt oder einer Kollegenrunde nach Hause gekommen und ohne sie wenigstens zu informieren. 

Partner nimmt Schuld auf sich

Natürlich seien der Streit und der «Unfall» passiert, sagt der Mann. Doch «ich bin zu einem grossen Teil selber schuld, sie war sehr wütend auf mich wegen meiner Lügen vorher». Der Abend sei auch das einzige Mal gewesen, dass sie nicht nur verbal, sondern auch handgreiflich gestritten hätten. «Wir haben damals beide getrunken.» Er habe ihr anfangs seine frühere Heirat verheimlicht und habe sie unfair behandelt. 

Der Mann ist zwar formell Privatkläger, aber man spürt, wie er der Frau näher steht. Er stellt keine Forderungen gegen sie und wird vom Obergericht als Auskunftsperson befragt. «Ich ging stur durch die Wand und habe alles getan für die Firma, habe nie ein Bedürfnis meiner Lebenspartnerin erfüllt», erzählt er. «Es ist tragisch, dass das passieren musste, bis ich sie respektierte.» 

Er habe lange nachgedacht und Zeit gebraucht, das zu realisieren, sagt er. Heute arbeite er für eine andere Firma,  und «seit ich gewechselt habe, streiten wir nicht mehr». Er nehme sich Zeit für das Leben mit seiner Partnerin, «wir lieben uns». Dass man sie nun einsperren wolle, «das verstehe ich nicht, und es nützt uns nichts», sagt er mit einem verzweifelten Blick zu ihr. 

Zum Moment des Messerstichs erklärt er, er ertrage nicht, lange zu streiten. Er sei darum zu seiner Freundin herangetreten und habe sie umarmen wollen. «Sie drehte sich um und wollte mich wohl im Frust wegstossen.» Wobei sie wohl nicht realisiert habe, dass sie vom Schneiden der Zitrone «etwas» in der Hand gehabt habe. 

Nun, vor Gericht, erlebe er seine Frau verwandelt, wie versteinert, erklärt der Mann. Er spüre, wie gestresst sie durch die Fragen zur damaligen Tat sei. Sie wiederum sagt heute, damals habe sie auch noch sehr schlecht Deutsch gesprochen und verstanden. «Sie kann sich auch heute nicht so ausdrücken, wie sie es auf der Strasse würde», erklärt ihre Verteidigerin dazu.

Suche nach einem besseren Leben

Die Frau ist in Polen aufgewachsen und heute 36 Jahre alt, wie sie über ihr vorheriges Leben erzählt. Bis 15 habe sie mit ihrer Mutter und Geschwistern gelebt, dann bis 18 im Waisenhaus. Offenbar war es nicht einfach: Sie habe damals Probleme mit ihrer Mutter gehabt und habe auch heute keinen Kontakt zu ihr, erklärt sie. Schon bald war sie selber schwanger, ihr Sohn sei heute gut 18 Jahre alt. Mit ihrem Ex-Mann habe sie «das grösste Problem» und die ganze Zeit Konflikte. Ihren eigenen Vater habe sie erst mit 30 Jahren kennengelernt, sagt sie auch. Er lebe in Polen, sie telefonierten nur ein paar Mal im Jahr. 

Ein Leben, das sie offenbar hinter sich lassen wollte. 2013 habe sie fünf Monate lang in England gelebt. 2015 habe sie ihren neuen Partner kennengelernt und sich sofort verliebt. «Ich arbeitete in der Schweiz, er kommt aus dem Südtirol und hat seinen Job hier, seither leben wir zusammen.» Ursprünglich hat sie eine Ausbildung zur Näherin gemacht. In der Zeit seit dem verhängnisvollen Streit habe sie als Putzfrau gearbeitet und den SRK-Pflegehelferinnenkurs absolviert, und sie habe sich bereits für Stellen in der Pflege beworben. 

Die Frau sagt auch, dass sie heute nicht mehr zum Alkohol greife, wenn sie unter Stress stehe. In einer Therapie habe sie vieles gelernt, sie verarbeite Stress heute ganz anders, mache Sport und vieles andere. 

«Klassische Affektsituation»

Ihre Mandantin habe keinen Vorsatz gehabt, plädiert die Verteidigerin, sie habe auch keinesfalls den Tod des Partners billigend in Kauf genommen. Auf die Anklage dürfe man nur teilweise abstellen, sie treffe nicht voll zu, entlastende Elemente seien vom Staatsanwalt nicht genügend untersucht worden. Etwa diese Elemente: «Es war eine klassische Affektsituation, und sie hat danach sofort die Nothilfe organisiert.» Die Frau sei extrem aufgewühlt und seelisch verletzt gewesen vom Verhalten ihres Lebenspartners, so die Verteidigerin.

An den Staatsanwalt richtet sie die Frage: «Wer von uns kennt keine Eifersucht?» An dem Tag sei der Alkohol dazugekommen. Es sei «unverständlich, dass das Kantonsgericht so viel Lebenserfahrung vermissen lässt». Leider habe das Kantonsgericht auch nicht im Ansatz geprüft, ob nur Körperverletzung vorliege. Und sie bittet das Obergericht, ihre Mandantin vom Vorwurf der eventualvorsätzlichen Tötung frei- und nur der Körperverletzung schuldig zu sprechen. Denn: «Selbst ihr Lebenspartner geht von einer Handlung im Affekt aus.» 

«Glauben Sie wirklich, die beiden würden noch zusammenleben, wenn sie ihn hätte töten wollen?», fragt die Verteidigerin das Gericht. Sie appelliert: «Urteilen Sie nicht härter als nötig.» Und sie beantragt eine Haftstrafe von 16 Monaten, die dank einer günstigen Prognose bedingt auf drei Jahre gewährt werden könne. 

Staatsanwalt beharrt auf schwererem Delikt

Im Strafantrag ans Kantonsgericht hatte der Staatsanwalt noch offengelassen, ob die Tat eventuell nur eine schwere Körperverletzung darstelle und nicht eine versuchte vorsätzliche Tötung. Der Schuldspruch für Letzteres sei «das einzig Richtige» und «nicht zu beanstanden», beharrt er nun. Dass die Frau «eine Art Blackout» gehabt habe vor und während der Tat, das «kann ich einfach nicht glauben», es widerspreche ihren Aussagen der Polizei gegenüber nach der Tat. Sie habe wohl keine direkte Tötungsabsicht gehabt, sonst hätte sie nochmals zugestochen, gesteht der Staatsanwalt ihr zu. Sie habe aber das Messer mit Absicht eingesetzt und die entstehende Lebensgefahr jedenfalls in Kauf genommen. 

Wenn das Obergericht ebenfalls auf versuchte vorsätzliche Tötung entscheide, so sei das Strafmass höher anzusetzen als im erstinstanzlichen Urteil. Bei einem möglichen Strafrahmen von fünf bis 20 Jahren und einem laut Kantonsgericht «weder leichten noch schweren» Verschulden seien zehn bis zwölf Jahre Haft der Ausgangspunkt und sieben Jahre angemessen oder sogar eher milde.

«Ich weiss auch, es ist etwas Schwieriges, eine wirklich gerechte Strafe zu finden», sagt der Staatsanwalt weiter. 

Das Obergericht wird das Urteil schriftlich eröffnen, damit haben sich die Parteien einverstanden erklärt. Der Mann legt seinen Arm um die Schulter der Frau, als sie zusammen den Gerichtssaal verlassen.

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