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Zwangsarbeit statt Straflager – Gefangene sollen Russland aufbauen

In Russlands Straflagern vegetieren Hunderttausende Menschen wie der prominente Oppositionelle Alexej Nawalny. Wie der 45-Jährige sitzen viele – ob schuldig oder unschuldig – meist etliche Jahre.

Agentur
sda
10.06.21 - 10:06 Uhr
Ereignisse
ARCHIV - Die Gefangenenkolonie IK-2, die sich unter den russischen Strafvollzugsanstalten durch ein besonders strenges Regime auszeichnet, liegt 85 Kilometer östlich von Moskau.Kremlkritiker Nawalny war in dieses Straflager gebracht worden. Foto: Kirill…
ARCHIV - Die Gefangenenkolonie IK-2, die sich unter den russischen Strafvollzugsanstalten durch ein besonders strenges Regime auszeichnet, liegt 85 Kilometer östlich von Moskau.Kremlkritiker Nawalny war in dieses Straflager gebracht worden. Foto: Kirill…
Keystone/AP/Kirill Zarubin

Die Lager gelten als Hölle auf Erden. Und weil deren Unterhalt viel Geld kostet und überall im Land Arbeitskräfte fehlen, sollen Strafgefangene nun für grosse Bauprojekte eingesetzt werden. Zwangsarbeit heisst das im offiziellen Sprachgebrauch. Der Chef des russischen Strafvollzugs, Alexander Kalaschnikow, sieht die Arbeitslager als Lösung für eine ganze Reihe von Problemen.

Die Gefangenen sollen etwa Eisenbahntrassen und Strassen bauen, Wälder aufforsten und Gräben ausheben – eben schwere körperliche Arbeiten verrichten, für die sich sonst vor allem Migranten aus den verarmten zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken einspannen lassen. Menschenrechtler kritisieren immer wieder, die Gastarbeiter würden zu Hungerlöhnen ohne richtige Pausen bis an den Rand der Selbstaufgabe ausgebeutet. Doch seit viele während der Corona-Pandemie in ihre Heimatländer zurückkehren mussten, fehlt nun diese Arbeitskraft an vielen Stellen in Russland.

«Das wird kein Gulag», beteuert Kalaschnikow mit Blick auf Befürchtungen vieler Menschen, Russland könnte wie zu Zeiten von Sowjetdiktator Josef Stalin wieder ein System der Ausbeutung mit den für ihre lebensbedrohlichen Bedingungen berüchtigten Straf- und Arbeitslagern errichten. «Das werden absolut neue, würdige Bedingungen», verspricht der Chef des Strafvollzugs. Seine Behörde berichtet auf ihrem Portal ausführlich über die Arbeit von Gefangenen, darunter auch in Fabriken. Die Menschen sollten ordentlich wohnen, nach Wunsch mit ihren Familien, und würdige Löhne erhalten, sagt Kalaschnikow.

Rund 200 000 Gefangene von den rund 500 000 in Russland kämen dafür in Frage, schätzen Behörden. Schon jetzt gibt es Zwangsarbeit in Russland, aber die Zahl der Plätze wird nicht ausgeschöpft – auch, weil viele Gefangene das ablehnen. Verurteilte berichten in der Zeitung «Kommersant», sie hätten durch die Einwilligung zur Zwangsarbeit ihr Recht darauf verloren, nach zwei Dritteln der verbüssten Haftzeit bei guter Führung entlassen zu werden. Gerichte hätten das abgelehnt, weil sie Zwangsarbeit schon als Hafterleichterung und strafmildernd ansähen.

«Das Regime ist aber nicht leichter, sondern der psychologische Druck auf die Verurteilten ist sogar grösser als im Straflager», sagt ein Verurteilter der Zeitung. Während es im Straflager verbriefte Rechte gebe wie Besuche von Angehörigen und Einkäufe im Gefängnisladen, sei das in einem Arbeitslager nicht geklärt.

Bei der Menschenrechtsorganisation Rus sidjaschtschaja (zu Deutsch: Das einsitzende Russland), die sich für die Rechte von Gefangenen einsetzt, stösst der vom Justizminister und anderen Vertretern des Moskauer Machtapparats verfolgte Kurs auf Kritik. Während Migranten unter Konkurrenzdruck billige und effektive Arbeitskräfte seien, sässen in den Gefängnissen vor allem 20- bis 25-jährige Frauen und Männer ohne Ausbildung, die wegen Drogendelikten verurteilt seien.

«Sie können nichts. Damit ein Verurteilter eine Arbeit verrichten kann, braucht er zuerst eine Ausbildung», sagt der Jurist Alexej Fedjarow von der Organisation. Die Ungelernten und wenig Motivierten seien für Unternehmer und Bauherren zudem ein Risiko. Fedjarow hält die Initiative für wenig durchdacht, weil auch die Kosten für eine Bewachung der Gefangenen auf den Baustellen berechnet werden müssten.

Allerdings wird die Zwangsarbeit längst in grossem Stil geplant. Justizminister Konstantin Tschujtschenko sieht eine Chance, die Zahl der Häftlinge in den Straflagern und Gefängnissen drastisch zu reduzieren – und somit die Kosten für den Strafvollzug.

Nach einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts Wziom sind 71 Prozent der Russen für eine breitere Anwendung der Zwangsarbeit. Straftäter sollten so für ihre Schuld büssen, der Gesellschaft Nutzen bringen, bei Opfern Schadenersatz leisten und zum Familienunterhalt beitragen.

Der durchschnittliche Lohn soll russischen Medien zufolge zwischen 20 000 und 24 000 Rubel (226 bis 271 Euro) liegen. Experten erwarten aber, dass in vielen Fällen nur der staatlich festgelegte Mindestlohn pro Monat von 12 792 Rubel (rund 145 Euro) gezahlt werde. Zudem behalte der Staat einen Teil des Gehalts ein, heisst es. Von einem regelrechten staatlichen «Business-Plan Gulag» schreibt die regierungskritische Zeitung «Nowaja Gaseta».

Auch auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg, wo sich Russlands Oligarchen und hohe Staatsfunktionäre treffen, wurde die Zwangsarbeit von Gefangenen auf den Baustellen Russlands in der vergangenen Woche als neues Wirtschaftsmodell diskutiert. Sogar in den Goldminen könnten die Gefangenen arbeiten, meinte der Gouverneur des Gebiets Magadan, Sergej Nossow.

Zwar verweisen staatliche Stellen auf die breite Unterstützung für die Initiative. Doch Menschenrechtler und viele Medien sehen das kritisch. Laut der Wziom-Umfrage befürchten 21 Prozent der Befragten nicht nur eine Rückkehr in die Zeiten des Gulag. Sie sehen auch Gefahr für die Sicherheit der Bevölkerung, sollten Schwerverbrecher weniger gut bewacht sein und fliehen.

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