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Wir werden im geistigen Desinfektionsmittel ertränkt

Andrea
Masüger
21.06.20 - 04:30 Uhr
SYMBOLBILD/UNSPLASH

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Im Jahre 1604 wurde in London eines der berühmtesten Stücke von William Shakespeare uraufgeführt: «Othello, der Mohr von Venedig». Es ist zu befürchten, dass dieses Drama demnächst auf den Index kommt. Denn der schwarze General aus der Lagunenstadt wird nicht nur unverhüllt als Mohr benannt, nein, er wird auch als Gewalttäter dargestellt, der aus unbegründeter Eifersucht seine Gattin erwürgt. Das ist natürlich im höchsten Masse diskriminierend. Othello müsste im mindesten Falle weiss sein – und im besten Fall ein amerikanischer Polizeioffizier.

Die schweizerische Mohrenkopfproblematik ist ein weiteres Beispiel für eine Korrektheitsdebatte, die immer bizarrere Züge trägt. Historische Kontexte werden nur noch aus einem total verengten gegenwärtigen Blickwinkel betrachtet. Tradition hat nichts mehr zu bestellen, weder für die Bezeichnung einer Schokospezialität noch für die Akzeptanz für frühere Geschichtseinordnungen. Denkmäler zeigen uns, wen und was man einst verehrte. Dies wäre zu respektieren, selbst wenn die Gegenstände der Verehrung problematische Seiten haben.

Dass nun im Zuge der «Black Lives Matter»-Bewegung reihenweise Geschichtsgrössen vom Sockel gekippt werden, die sich gegenüber Sklaven, Schwarzen, Indianern und anderen Minderheiten besonders scheusslich verhalten haben, kann man ja noch verstehen. Diese Figuren wirken in die Gegenwart hinein. Dass nun aber selbst ein Denkmal von Churchill in London verhüllt werden muss, damit es nicht völlig zerstört wird, weist eher auf eine markante Geschichtsblindheit des protestierenden Personals hin. Wie sähe denn Europa heute aus ohne Churchill?

«Alles Grosse ist schädlich und suspekt.»

Man muss davon ausgehen, dass alles suspekt ist, das in irgendeiner Form Grösse und Erhabenheit zeigt. Das erinnert irgendwie an den Furor der französischen Revolutionäre, die im Fanatismus der Gleichheit sich zuletzt gegenseitig auf die Guillotine schleppten. Im Zuge der Coronakrise haben wir gelernt, mit Desinfektionsmittel gegen Viren umzugehen. Nun leert man uns hektoliterweise ein geistiges Desinfektionsmittel über und in die Köpfe: Was wir denken, muss absolut virenfrei sein!

Ja, und zwar nicht nur in der Retrospektive, nein, die Ungeheuerlichkeit muss getilgt werden, bevor sie stattfindet. So hat die Migros nach der elenden Mohrenkopferfahrung in vorauseilendem Gehorsam dieser Tage gleich auch noch zwölftausend fertig produzierte Papiertragtaschen wieder eingestampft, weil diese lustige Zeichnungen mit einer nackten Frau und einer Katze zeigen. Man hatte Angst vor Sexismusvorwürfen. Die Zeichnungen stammen notabene von drei Künstlerinnen. Also Frauen, die gegen sich selber sexistisch sind ...

Und die helvetische Post hat die Zusammenarbeit mit einer Influencerin eingestellt, die sich auf den sozialen Medien über die Zürcher Demos aufgeregt hatte, die sie am Shoppen hinderten. Wenn man sich hierzulande über eine Demonstration beschwert, die einen hehren Gegenstand zum Ziel hat, beschmutzt man also diesen Gegenstand. Ja, und in New York wird man als Redaktor einer Meinungsseite entlassen, wenn man auf ihr einem Senator Raum gibt, der einen Truppeneinsatz gegen Plünderer befürwortet.

Wir ahnen es: Korrekt ist nur, was ins eigene Weltbild passt. Damit werden die Grundsätze der Aufklärung langsam aber sicher an den Nullpunkt zurückgedreht. Dorthin, wo Kirche und König noch sagten, was es zu denken gilt. Anstelle dieser Institutionen sind nun aber von niemandem legitimierte allgemeine Leitlinien getreten, die wir angstvoll einzuhalten gedenken, damit wir nicht selbst in den Strudel geraten.

Bei den Demos gegen Rassismus und Polizeiwillkür in Schweizer Städten wurde übrigens in krasser Weise gegen das Versammlungsverbot von mehr als 300 Personen verstossen. Die Demonstrierenden, die für die Rechte von Minderheiten einstehen, haben damit die Minderheit von Corona-Risikopersonen gefährdet. Dagegen müsste man eigentlich eine Demo machen.

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