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Das empörte Plärren der Pole

Wer gehört werden will, muss laut und deutlich sprechen. Wird aber von links und rechts, jung und alt geplärrt, verkommen die Aufrufe, Hinweise und Warnungen zu einer kontraproduktiven Kakofonie.

09.11.22 - 16:30 Uhr
Da entsteht kaum Konsens: Plärren und Bierkonsum.
Da entsteht kaum Konsens: Plärren und Bierkonsum.
Bild Olivia Aebli-Item

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Vor den Zeiten sozialer Netzwerke konnte es einem passieren, dass man am Stammtisch der Lieblingsbeiz in einen emotional aufgeladenen Diskurs verwickelt wurde. Schon damals war es dann mitunter schwierig, daraus ein konsensfähiges Fazit zu ziehen. Insbesondere, wenn die Diskutierenden ihre Argumente mit fortlaufender Dauer und parallel dazu verlaufendem Alkoholkonsum nicht immer sachlicher, sondern in erster Linie immer lauter vortrugen.

War man dem Thema gegenüber relativ neutral eingestellt und wurde einem das Geplärre der Diskussionsparteien irgendwann zu mühsam, hatte man verschiedene Strategien: Entweder man versuchte, mit dem Hinweis auf den Blutdruck der Streithähne zu schlichten, oder man begann in die Kakofonie mit einzusteigen und mit eigenen, möglichst schreiend vorgetragenen Voten die Diskussion zu einem Ende zu bringen. Dritte Strategie: Man erklärte den eigenen Abend im Lokal für beendet, trank sein Bier aus und verschwand.

Grösster Vorteil der letzten Strategie: Sobald man aus der qualmigen Gaststube trat, wurde es still um einen und man konnte die eigenen Gedanken zum Thema ausklamüsern. Was dann auf dem Heimweg ganz oft passierte: Man facepalmte sich mental ob der Dumpfheit des soeben verlassenen Geplärres und schwor sich, weder für das eine noch das andere thematische Lager der Diskussion Partei zu ergreifen. Nicht in der Beiz und auch nicht auf dem Stimmzettel. Dafür waren einem beide Seiten einfach zu mühsam gewesen.

Beizendiskussionen gibt es auch heute noch. Sie beschränken sich aber nicht mehr auf die vier Wände einer Pinte. Nein, sie haben den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Egal ob das Thema Sexismus, Rassismus, Klimawandel, Fachkräftemangel oder drohende Energiemangellage heisst. Die Meinungspole zum jeweiligen Thema hauen einem ihre selten konsensfähige Meinung ungefragt auf allen möglichen Kanälen um Ohren und Augen. Die einen empören sich darüber, dass sich die anderen nicht empören, worauf sich diese wiederum über die Empörung Ersterer empören.

In Bern darf eine Reggaeband ihren Auftritt nicht fortführen, worauf sich Vertreter der rechten Regierungspartei empören und aufmachen, genau in diesem Lokal ein Feierabendbier zu trinken, das sie nicht erhalten, was sie empört. Ein Magistrat kann sich am Schluss seiner Rücktrittspressekonferenz einen unsäglich unnötigen und versteckt empörten Seitenhieb in Richtung Genderkämpferinnen und -kämpfern nicht verkneifen, worauf die sich, genau: empören. Währenddessen empört sich «die letzte Generation» ob der gefühlten Gleichgültigkeit der Menschheit gegenüber der Klimakrise, klebt sich an Strassen und Kunstwerke oder schmiert diese mit Nahrungsmitteln voll. Die Reaktion? Empörung.

Die gauss’sche Glocke der Menschheit, also die breite Masse, steht währenddessen kopfschüttelnd daneben und wünscht sich, einfach aus der Beiz treten zu können, um der allgegenwärtig plärrend kundgetanen Empörung entfliehen und sich die eigenen Gedanken zu den Themen machen zu können. Geht nicht. 

Man kann sich Empörung und Gegenempörung heute wohl nur noch entziehen, wenn man ohne jeglichen Zugang zu Kommunikationsmitteln irgendwo im Wald oder weit oben auf einem Berg lebt. Das können oder wollen die wenigsten.

Die grössere Krux ist die Tatsache, dass sich hauptsächlich die jeweiligen Meinungspole eines Themas die Mühe machen, laut zu sein. Ihre Meinung, ihre Empörung und ihre je länger, desto extremer vorgetragenen Argumente werden von thematisch normalmotivierten Menschen erst nicht mehr ernst- und irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Frei nach «Fettes Brot»: «Während sie sich gegenseitig anschreien, entscheide ich mich für ja, äh, nein, ich mein, jein.»

Ein Jein dient der Sache nicht. Und mag sie eigentlich noch so wichtig und richtig sein. In diesem Sinne: Ich wünsche uns allen - links wie rechts, oben wie unten, jung wie alt - mehr Mut zur Gelassenheit und plädiere für weniger Geplärre. Vielleicht klappt's dann auch mit dem Konsens.

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