×

Fahren wir nun alle in den Abgrund?

Andrea
Masüger
05.04.20 - 04:30 Uhr
UNSPLASH

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Diese Tage des spriessenden Frühlings und der dunklen vier Wände sind nicht nur die Zeit der Politiker, Epidemiologen, Virologen, Ärzte und Ökonomen, sondern auch der Denker. Fernab vom viralen Tagesmüll beschäftigen sich Philosophen, Soziologen und andere Wissenschaftler mit den beiden grossen Grundsatzfragen: Wie konnte es so weit kommen und wie wird es weitergehen?

Ihre Analysen kann man grob auf drei Themenkreise reduzieren, die man als eine Art Zustand des Staates bezeichnen kann. Da gibt es zuerst den Staat des Notstands, dann den Superstaat und schliesslich den Staat der Zukunft.

Ein Sozialethiker meint beispielsweise, das Coronavirus sei lediglich die biologische Verkörperung einer allgemeinen ideellen Krise der Gesellschaft. Das Virus sei auf einen moralisch und politisch schwer vorerkrankten Patienten getroffen. Mit anderen Worten: Unser abgewirtschaftetes System ist krank geworden. Ein Philosoph schreibt, der gegenwärtige Ausnahmezustand, den die Regierungen verhängt hätten, sei schon längst unser Normalzustand, wir würden es bloss nicht merken. Wir lebten schon lange ohne Halt, in «Zeiten transzendentaler Obdachlosigkeit». Das Virus bringe dies bloss auf den Punkt.

Diese These vom Notstandsstaat wird in etwas kruderer Form auch vom bekannten brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff geteilt. Er hält die Corona-Krise für eine Bestrafungsaktion von Mutter Erde, die sich gleichsam für alles rächt, was wir ihr antun. Das ist nahe an der mittelalterlichen Sicht, die Seuchen regelmässig als Strafe Gottes verstand. Ähnlich, aber 
fundierter, argumentiert der Wissenschaftsjournalist James Hamilton-Paterson, der meint, die fortschreitende Naturzerstörung würde die Verbreitung von Viren befördern, die sich sonst abseits der Zivilisation aufhielten («Die Rache des Regenwaldes»).

«Wird die Welt nicht mehr wie vorher sein?»

Dann haben wir jene, die vor einer übermächtigen Erstarkung des Staates in der Folge der Krise ausgehen. Für einmal zählen wir da den Chefredaktor der NZZ zu den Philosophen, denn er sieht die Welt in einem neuen «fin de siècle» und fragt sich: «Schlägt nun die Stunde des Superstaates?» Der Mensch sei eben viel weniger souverän, als er meine, und er werde deshalb nach der Krise nicht mehr derselbe sein wie vorher, prognostiziert der Philosoph Slavoj Zizek. Der Beststeller-Historiker Yuval Noah Harari sieht Corona als Wendepunkt in der Schlacht um unsere Privatsphäre, es drohe die totale Überwachung des Bürgers. (Tatsächlich bastelt jetzt sogar die Schweiz an einer Handy-Ortung von infizierten Personen.)

Und wie sehen Staat und Gesellschaft nach Corona aus? Der Notstandsstaat könnte zum politischen Modell der Zukunft werden, weil die Bürger ihn offensichtlich schnell akzeptierten, schreibt ein bekannter Literaturwissenschaftler. Man denke nur an die Herausforderungen der Klimakrise. Andere sprechen von einer Neudefinition der Weltpolitik angesichts der Niederlage des Westens in dieser Krise. Schliesslich liest man viel von der Rückkehr zum Lokal-Regionalen, zur Besinnung auf die kleinräumigen und weniger verletzlichen Strukturen. Von Anti-Globalisierung ist die Rede, nun ist «Glokalisierung» angesagt.

Aber alle sind sich einig: Die Corona-Krise ist der schlimmste Hammerschlag der Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Konsens erstaunt. Damals starben insgesamt gegen 80 Millionen Menschen. Europa war von einem beispiellosen nationalsozialistischen Nihilismus bedroht. Kann man nun einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lockdown (der überdies mit Staatsmilliarden abgefedert wird) und eine im Vergleich zum Krieg mikro-skopische Opferzahl im gleichen Atemzug nennen wie die Menschheitskatastrophe von 1939 bis 1945?

Unsere Konsum- und Anspruchswelt hat uns so wehleidig gemacht, dass wir gröbere Störungen des Alltags gleich als Weltuntergang empfinden. Die Frage, ob man an Ostern ins Tessin fahren soll, wird zum beherrschenden Thema einer Krise, die die schlimmste sein soll seit Stalingrad, Auschwitz und Hiroshima. Glücklich ist diese Welt – trotz allem.
 

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.

Alles halb so schlimm. Wenn wir nach Ostern alles geschützt, geregelt und schrittweise wieder hochfahren, sind wir wieder in einigen Wochen, wenn auch in etwas vernünftigerer Weise, auf gutem sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kurs. Viel Glück.