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Von Boccaccio bis Corona

Hans Peter
Danuser
24.03.20 - 04:30 Uhr
PIXABAY
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Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Seit 11. März steht ganz Italien in Quarantäne. Eine Extremsituation, die noch zu Jahresbeginn völlig undenkbar war und die – zusammen mit den massiven Interventionen der USA – zu Börsensturz, Konsternation sowie lähmender Unsicherheit geführt hat. Dabei hat gerade Italien Erfahrung mit Seuchen aller Art, was auch aus zwei Schlüsselwerken der Weltliteratur bekannt ist.

Das erste ist das Dekameron von Giovanni Boccaccio, der vor 700 Jahren zusammen mit Petrarca und Dante das literarische Dreigestirn der Toskana bildete. Ausgangslage für das Dekameron ist die Pest, die Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien wütete und auch die Bewohner des boomenden Florenz in Angst und Schrecken versetzte.

Eine Gruppe von sieben Frauen und drei Männern zog sich in toskanische Landhäuser zurück. Zu ihrer Unterhaltung und Ablenkung vom grassierenden Elend erzählten sie einander Geschichten nach klaren Regeln: Zwei Wochen wollten sie wegbleiben und dabei an zehn Tagen zu jeweils einem vorbestimmten Thema passende Stories vortragen, jede/r eine pro Tag, macht hundert insgesamt. Das griechische 'Dekameron' bedeutet denn auch «Zehntagewerk».

Der dritte Tag z.B. enthält zehn Geschichten von je etwa zehn Seiten «von denen, die durch Scharfsinn etwas Heissersehntes erlangten oder etwas Verlorenes wiedergewannen». Ich habe die Novellen seit meiner Kantizeit nicht mehr gelesen und durch die aktuelle Corona Krise wiederentdeckt. Sie sind grossartig. Die paar Geschichten des 3. und 7. Dekameron-Tages versprühen weit mehr Spannung und Erotik als etwa die zwei Kilogramm des Softporno-Elaborats «Fifty Shades of Grey», die vor einigen Jahren, kurz vor der #metoo-Bewegung von Millionen, nicht zuletzt weiblichen Fans konsumiert wurden.

Einige Geschichten hat Boccaccio von den griechischen und römischen Klassikern übernommen, eine hat Lessing 400 Jahre später seinem «Nathan der Weise» zugrunde gelegt.

Im Jahr 1630, während des Dreissigjährigen Kriegs suchte eine weitere Pestwelle Mailand heim. Alessandro Manzoni hat im 31. Kapitel seines Nationalromans «Die Brautleute» eindrücklich beschrieben, wie die Seuche ganze Landesteile entvölkerte, und wie seine «Promessi sposi» damit in der Brianza am Comersee zurande kommen mussten.

Vor erst gut 100 Jahren, 1918/1919 suchte die «Mutter aller Pandemien», die Spanische Grippe zahlreiche Länder rund um die Welt heim. Allein in Indien raffte sie 10 bis 18 Millionen Menschen dahin – mehr als alle Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Die Gesamtopferzahl lag bei 50 Millionen Toten («Schweiz am Wochenende» vom 7. 3. 2020, S.9).

1985 veröffentlichte der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez seinen Bestseller-Roman «Die Liebe in Zeiten der Cholera», dessen Handlung weniger mit Seuchen als mit lateinamerikanischen Gefühlswelten, Zorn und Cholerik zu tun hat.

Domenico Squillace, Rektor einer Mailänder Mittelschule sieht die grösste Gefahr des Corona-Virus nicht in der Krankheit selbst. Die größte Bedrohung sei die Vergiftung des Zwischenmenschlichen. «Es ist ein urzeitlicher Instinkt, einen unsichtbaren Feind überall zu vermuten. Man ist geneigt, alle Mitmenschen als Bedrohung zu sehen.» Aber «anders als während der Epidemien des 14. und 17. Jahrhunderts haben wir heute die moderne Medizin an unsere Seite, ihre Fortschritte und Sicherheiten, glaubt mir, das ist nicht wenig.» («Tagesanzeiger» vom 6. 3. 2020, S.17).

Zwei weitere Bücher dürfen in diesem Zusammenhang nicht fehlen: Albert Camus' «die Pest» ist wohl der Corona-Roman schlechthin. Er ist 1947 erschienen und beschreibt eine Pest-Epidemie in Nordafrika («Schweiz am Wochenende» vom 14.3 2020, Kultur&Leben, S. 6).

Sowie «Die Stadt der Blinden» vom portugiesischen Nobelpreisträger Jose Saramaga. Der später verfilmte Bestseller erschien 1995 und beschreibt eine Epidemie, die eine Massenerblindung der Bevölkerung einer ganzen Stadt verursacht...

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