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Corona und die Moral

«Jeder Tote ist einer zu viel!» «Jedes Menschenleben ist gleich viel wert!» «Wegen wirtschaftlicher Interessen dürfen keine Todesfälle in Kauf genommen werden!»

Peter
Eisenhut
22.03.21 - 04:30 Uhr

Im Blog «Aktuelle Volkswirtschaftslehre» schreiben Jan-Ebert Sturm, Hans Jörg Moser und Peter Eisenhut über aktuelle Themen, die die Volkswirtschaft bewegen.

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«Jeder Tote ist einer zu viel!» «Jedes Menschenleben ist gleich viel wert!» «Wegen wirtschaftlicher Interessen dürfen keine Todesfälle in Kauf genommen werden!»

Solche und ähnlich Aussagen im Zusammenhang mit Corona sind Ihnen sicherlich auch schon begegnet und sie sind «entwaffnend». Ethik- und Moralvorstellungen verbieten jeglichen Widerspruch. Gegenargumente bleiben – zumindest beim ersten Versuch – im Hals stecken. Steht doch Moral für das Gute, wer dagegen antritt, läuft Gefahr, in die unsoziale, egoistische oder neoliberale Ecke gestellt zu werden.

Ist jeder Tote einer zu viel?

Dabei ist «Jeder Tote ist einer zu viel» doch völlig weltfremd, angesichts der Tatsache, dass unser Leben auf jeden Fall irgendwann zu Ende geht. Glücklicherweise für die meisten erst im hohen Alter. Bei den Corona-Toten liegt das Durchschnittsalter nahe bei der statistischen Lebenserwartung. Es kann eben nicht um die Rettung von Menschenleben gehen, sondern immer nur um gerettete Lebensjahre. Der Wert des Lebens eines neunjährigen Kindes ist nun mal nicht gleich hoch wie das eines 99-Jährigen. Wie würden Sie entscheiden, wenn sie nur einen dieser beiden Menschen retten könnten?

Wenn jeder Tote einer zu viel wäre, müssten wir «alles» tun, um Verkehrs-, Drogen- oder Grippetote zu verhindern. Also beispielsweise Autofahren, Rauchen, Alkohol und Kontakte während der Grippesaison verbieten. Offensichtlich sind wir dazu nicht bereit, weil damit neben der Freiheit und der Selbstverantwortung auch die wirtschaftliche Existenz zahlloser Menschen riskiert würde.

Eine Ökonomie der Optima

Die Haltung «whatever it takes» ist immer ineffizient, weil es nicht um das Maximum, sondern um das Optimum geht. Die Suche nach den Optima ist der Kern der Ökonomie. Die «Zero-Covid»-Strategie, die den Pandemietod um jeden Preis verhindern will, ist eben nicht optimal. Insgesamt muss die Politik eine Strategie wählen, bei der die Verhältnismässigkeit der Massnahmen gewahrt bleibt. So wie das der Bundesrat in der Schweiz versucht. Ob mit der eingeschlagenen Strategie das Optimum erreicht wird, kann und soll Diskussionen und Neujustierungen auslösen. Neujustierungen sollten insbesondere dazu führen, dass mit zunehmender Erfahrung und breiteren Datengrundlagen die Zielgenauigkeit der Massnahmen erhöht werden kann.

«Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut» schreibt nicht irgendwer, sondern der Deutsche Ethikrat. Es sei eine Abwägung des erhofften Nutzens mit den Schäden erforderlich. Diesen Aufwand wollen sich die reinen Moralisten wohl ersparen. Moral appelliert eben an die Emotionen, schützt vor kalten Kosten-Nutzen-Überlegungen, befreit uns vom Nachdenken und fühlt sich einfach gut an. Dabei entsprechen Kosten-Nutzen-Überlegungen den Ansprüche der Moral oftmals besser als ein blinder Moralismus.

Leben in einer Doppelmoral

Zu wie viel Todes- und Armutsopfern führt der durch die Pandemie-Massnahmen ausgelöste wirtschaftliche Einbruch langfristig und global? In wohlhabenden Ländern steigt die Sterberate in einer Rezession kaum an. Ganz anders aber in Entwicklungsländern, erhöht sich doch dort die Mortalität bei einem wirtschaftlichen Einbruch über mehrere Jahre um rund einen Drittel, wovon vor allem Kleinkinder betroffen sind. Laut der Weltbank werden nach der Pandemie ca. 150 Millionen Menschen mehr in absoluter Armut leben und fast ebenso viele werden erstmals von akutem Hunger bedroht sein.

Wer die Hoffnungen auf die Impfungen setzt, wird eines Besseren belehrt. Gemäss WHO wurden bisher 85 Prozent aller Impfungen in nur zehn Ländern verabreicht. Die EU-Kommission hat Kontrollen für Ausfuhren von Covid-19-Impfstoff vorgeschrieben. Und die Schweiz? Sie wurde heftig dafür kritisiert, dass sie «nur» für knapp 100 Prozent der Bevölkerung Impfungen bestellt hatte. Nun hat Sie nachgebessert. In den Entwicklungsländern werden hingegen zumindest mittelfristig neun von zehn Menschen leer ausgehen.

Wo bleibt da die Moral? Der Anspruch von Ethik und Moral ist doch, nicht national, sondern global und nicht kurz-, sondern langfristig zu denken. Liegt es nicht auf der Hand, in welcher Doppelmoral wir leben?

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