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Die Physik von Schneebrettlawinen ähnelt Erdbeben

Wissenschaftler der EPFL und des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF haben ihr Verständnis von Schneebrettlawinen vertieft. Diese fordern unter allen Lawinentypen jedes Jahr die meisten Todesopfer. Die Ergebnisse ebnen den Weg für eine effektivere Risikovorhersage.

Davoser
Zeitung
01.08.22 - 17:06 Uhr
Leben & Freizeit
Der Snowboarder Mathieu Schaer entgeht nur knapp einer Schneebrettlawine.
Der Snowboarder Mathieu Schaer entgeht nur knapp einer Schneebrettlawine.
Ruedi Flück

Durch die Vergrösserung des Massstabs für die Simulation von Schneebrettlawinen von einem auf hundert Meter haben Wissenschaftler der EPFL und des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF eine Entdeckung gemacht, die unser Verständnis der Funktions­weise dieses Lawinentyps grundlegend verändert. Die Entdeckung mag als kleine Revolution in einem Nischenbereich ­erscheinen. Sie offenbart jedoch den Beitrag, den die gewaltigen, heute verfüg-baren Rechenkapazitäten zur besseren Beobachtung komplexer physikalischer Phänomene leisten können. Die Ergebnisse der Forschung sind soeben in der Fachzeitschrift «Nature Physics» erschienen.

Im Jahr 2018 veröffentlichte der Forscher Johan Gaume in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der «University of California» in Los Angeles eine erste Studie in «Nature Communications». Er hatte zuvor eine dreidimensionale Schneebrettlawine mit bisher unerreichter Genauigkeit nachgebildet.

Nach dieser Pionierleistung setzen Jo-han Gaume, heute Leiter des Lawinen­simulationslabors an der EPFL und ­Mitarbeiter am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, und sein Doktorand Bertil Trottet ihre Forschung in grösserem Massstab fort und beob­achten eine überraschende Veränderung des Anrissverhaltens bei der Lawinen-auslösung. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Riss ausbreitet, beträgt über 100 Meter pro ­Sekunde, eine Schnelligkeit, die weit über den experimentellen Messungen liegt, die rund 30 Meter pro Sekunde aus­weisen. Die beiden ­Forscher denken zunächst an einen Fehler.

Scherbruch

Eine Schneebrettlawine zeichnet sich durch einen scharfen, linearen Riss an der Spitze der abgehenden Schneemasse aus. Sie kann entstehen, wenn eine dichte Schicht, das sogenannte Schneebrett, auf einer sehr kohäsionsarmen Schwachschicht liegt. Entsteht eine Lawine, zum Beispiel durch einen Skifahrer, bricht die Schwachschicht ein, und das Schneebrett verliert seinen Halt. Die Biegung des Schneebretts wird so zu einer der treibenden Kräfte für die Ausbreitung des Bruchs. Zumindest war dies bislang der Kenntnisstand, der auf Experimenten und numerischen Simulationen mit Schneebrettlängen von weniger als zwei Metern beruhte.

Bei der Modellierung von Schneebrettsystemen in einer Grössenordnung von rund hundert Metern beobachten die Forscher, dass wenn die Ausbreitungsdistanz eine bestimmte Länge von rund drei bis fünf Metern überschreitet, die Zugkraft des Schneebretts zum einzigen ­Antrieb des Vorgangs wird. Das führt zu einem Bruch der Schwachschicht durch Scherung, ähnlich dem Bruch, der bei seltenen Erdbeben grosser Magnitude zu beobachten ist. «Wir hatten das Gefühl, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben, aber wir brauchten experimentelle Daten, um das zu bestätigen», sagt ­Johan Gaume.

Videoanalyse

Zahlreiche Zufälle helfen den Wissenschaftlern, ihre Entdeckung zu bestäti-gen. Bei einem Kolloquium entdeckt ­Johan Gaume, dass ein Kollege vom ­Lawineninformationszentrum in Colorado, Ron Simenhois, an einer hochmo-dernen Technik der Videoanalyse arbeitet. Zur gleichen Zeit schickt ihm ein ehemaliger Student der Umweltingenieurwissenschaften der EPFL, Mathieu Schaer, der heute professioneller Snowboarder und Ingenieur bei Meteo-Schweiz ist, ein Video, das zeigt, wie er nur knapp einer grossen Schneebrett­lawine entkommt.

«Wir hatten Schneedaten über diese ­Lawine am Col de Cou in den Schweizer Alpen, und das Video war von hoher Qualität, da es für einen Snowboard-Film bestimmt war. Dank der Video­analyse und dieser Parameter konnten wir unser Modell ein erstes Mal validieren», erklärt der Forscher, der der Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwissenschaften (ENAC) angehört. Insgesamt vier echte Lawinen bestätigten den Übergang vom Anticrack-Modus zum sogenannten Supershear-Ausbreitungsmodus, der bei einigen Erdbeben beobachtet wurde. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse entwickelt das SLF derzeit in Davos eine Ver-suchsanordnung in grösserem Mass-stab, um den Ablauf noch besser zu ­verstehen.

Risiken vorbeugen

Diese Ergebnisse werden zu neuen Hypothesen führen, mit deren Hilfe man die numerischen Modelle vereinfachen und die Rechenzeiten für die Lawinenmodellierung drastisch von mehreren Tagen auf wenige Minuten reduzieren kann. Die neuen Modelle können dann dazu verwendet werden, die Grösse von Lawinen abzuschätzen, ein entscheidender Parameter für Risikomanagement und -vorhersage.

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