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Den letzten Weg gegangen

Die Tagebuch-Notizen vonGiovanni Devoto, einem 40-jährigen italienischen Ingenieur, der 1944 tuberkulosekrank nach Davos kam, begleiteten die «Forum Bau+Kultur»-Wanderer auf dem Kunst- und Architekturspaziergang

Davoser
Zeitung
28.09.22 - 06:50 Uhr
Leben & Freizeit
Farbgewaltig: Giacomettis Paradiesfenster in der Kirche St. Johann.
Farbgewaltig: Giacomettis Paradiesfenster in der Kirche St. Johann.
zVg

«Das Ende naht . . .». Diese Schicksalsgeschichte bereicherte die Auseinander­setzung mit der Kunst und den Bauten für das Sterben auf eine sehr unmittelbare und persönliche Art und Weise.

«Übermorgen breche ich auf (nach Davos), um auf einem schwierigen und schmerzhaften Weg Heilung zu suchen. Ich breche unter traurigen Umständen auf. Ich lasse die Familie und das Vaterland zurück, weiss nicht, ob ich beide wiedersehen werde. Gequält von der Krankheit, werde ich düstere Stunden da oben verbringen. Es wäre ein einsames Sterben da oben, ein Sterben ohne den Trost durch vertraute Gesichter.»

Das vermerkt er am 7. Mai 1944 in seinem Tagebuch. Johanna Veit Gröbner hat die Auszüge aus der Veröffentlichung extra für diese Führung übersetzt. Trotz Schneewetter begab sich eine dreissigköpfige Gruppe am Samstag, 17. September, auf den letzten Weg. Die «Zauberkraft» von Dr. Maurer vom Sanatorium Schatzalp, dem Giovanni Devoto 1937 schon begegnet war, ist jetzt seine letzte Hoffnung.

Vom Paradies

Nachdem Thomas Mann im «Zauberberg» die Krankheit und das Sterben in Davos zum grossen Thema machte, lancierte Davos eine grosse Gegenkampagne. Der «Weg zu Kraft und Gesundheit führt über Davos» versprach die Kurortwerbung, als der Bergeller Kunstmaler Augusto Giacometti 1928 das Paradies zum Thema seiner Kirchenfenster an der Kirche St. Johann machte. Ob es auch eine Hommage an die «Götter in Weiss» ist mit ihren wundersamen Heilsversprechen? Der Meister der Farben lässt uns bis heute staunen. Nicht nur, weil er in der reformierten Kirche Jesus gleichwertig die Maria zur Seite stellt. Er hat auch jenes Chor-Fenster, welches vom Kirchenschiff nicht einsehbar ist, ganz ohne biblische Motive gestaltet. Die Farbenpracht dieses angedeuteten Paradies­gartens ist das erste abstrakte Kirchenfenster der Schweiz: eine künstlerische Pionierleistung. Ulrich Weissert untermalte die Kunstbetrachtung akustisch mit ebenso eindrücklichem Orgelspiel.

Um(ge)baut: Die alte Kapelle steckt im Krematorium.
Um(ge)baut: Die alte Kapelle steckt im Krematorium.
zVg

Durchs Fegefeuer

Der Tagebuch-Protagonist Devoto protokolliert allerdings nicht nur seinen Krankheitsverlauf, sondern auch akribisch genau das höllische Kriegsgeschehen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Manche Parallelen zu den tagesaktuellen «Tagesschau»-Berichten erschreckten die Zuhörer regelrecht. 1914 machte der Feuerbestattungsverein aus der Kapelle am Friedhof Alberti ein profanes Krematorium: Die Architekten Overhoff und Schmitz umbauten das Gotteshaus allseitig im Reformarchitekturstil, Technik und Ofen versteckten sie tief unter dem Boden. Um zu merken, dass der vermeintliche Glockenturm eigentlich ein Kamin ist, muss man schon genau hinschauen. Die Aufklärung hat hier schon vor hundert Jahren den traditionellen Glauben mit Vernunft und Sachlichkeit ersetzt. 1918 hat Augusto Giacometti den mit ornamentalen Blumen übersäten Innenraum mit einem grossen Wandbild ausgeschmückt. Die «Verklärten» sind grad dabei, ihr letztes weltliches Gewand abzulegen und in die Tiefe des dunklen, aber bunten Hintergrundes zu entschweben. Es deutet an: Man ist nicht am Ende, sondern am Übergang vom Leben zum Tod angekommen. «Die Vernichtung des Leichnams durch Feuersglut – welche reinliche, hygienische und würdige, ja heldische Vorstellung war das, im Vergleich mit derjenigen, ihn der elenden Selbstzersetzung und der Assimilation durch niedere Lebewesen zu überlassen!», erklärt Settembrini in Thomas Manns «Zauberberg». Während das Krematorium aussen wie eh und je aussieht, ist dem Innenraum seine festliche Ausschmückung leider abhandengekommen. Hinzugekommen ist ein neues Nachbargebäude mit zwei Aufbahrungsräumen, entworfen vom gebürtigen Davoser Architekten Michael Kloiber. Die nüchternen Räume aus Sichtbeton und Lärchenholz macht er mit raffinierter Fenstersetzung und Beleuchtung zu einem sinnlichen Abschiedsort.

Auf die Toteninsel

Die Hoffnung, dass dank dem neuen Krematorium weniger Erdbestattungen stattfänden, zerstreuten sich rasch. Die 2000 Plätze am Friedhof Alberti reichten nicht mehr. Davos ist in bloss 50 Jahren von 3000 Einwohnern auf 11 000 angewachsen, und auch etliche Gäste haben im boomenden Kurort ihr Leben gelassen. Schon nach 17 Jahren müssen Gräber wieder geräumt werden. Darum wurden Rudolf Gaberel und Ingenieur Nussbaumer 1917 beauftragt, sich nach einem Ort für einen neuen Friedhof umzusehen, weit genug weg, dass er dem künftigen Stadtwachstum nicht in die Quere kommt, und gross genug, wenn die Stadt so weiterwächst. Eine Variante sah einen Friedhof am Waldrand beim Waldhaus vor, doch sie fanden eine bessere Lösung. Kunstmaler Arnold Böcklin malte 1880 «die Toteninsel»: Dieses neue Friedhof-Idealbild von einer Insel unter einem von Felsen umsäumten Zypressenhain. Ein Sehnsuchtsort für das «After-Live», statt ein Gottesacker innerhalb enger Kirchenmauern – das wurde zum Leitbild der Friedhofsgestaltung im 20. Jahrhundert. Inselgleich ragt der Wildboden-Moränenhügel ins Landwassertal, zum Idealbild brauchte es nur noch wenige architektonische Eingriffe, und so liess Rudolf Gaberel den alten Lärchenwald an der Geländekante mit einer mannshohen Trockenmauer, nach dem Vorbild der alten Davoser Viehpferche, umfassen. Respektvoll schwingt sie sich um alte Bäume, die in ihrem Verlauf stehen. Den Aussenstehenden erinnern diese Ausbuchtungen an Wehrtürme einer Festungsanlage. Bis zum monumentalen Friedhofs-Eingang muss man erst mal kommen, deuten sie an. Die ehemalige Waldlichtung überzog er mit einem geometrischen Wegenetz, rings um ein Springbrunnen-Rondell. 4000 Reihengräber, gesäumt von frisch gepflanzten Bäumchen, so der Plan. Einfache Holzkreuze mit einem schützenden Dächlein liess der Architekt per Friedhof-Ordnung vorschreiben. Drumherum 2500 locker unter den alten Lärchen verstreute Privatgräber. Hier stand die Wandergruppe dann plötzlich am Grab des Giovanni Devoto. Am 27. September 1944, zwei Tage nach seinem letzten Tagebucheintrag, starb er. Wegen der Kriegswirren wurde er in Davos bestattet. Mehr als 60 Jahre später fand auch seine Frau Giulia Devoto Falck ihre letzte Ruhestätte hier.

Endstation: Johanna Veit Gröbner führt zu Devotos letzter Ruhestätte.
Endstation: Johanna Veit Gröbner führt zu Devotos letzter Ruhestätte.
zVg

Ewige Ruhe oder ewige Baustelle?

Eine strenge Grabmal- und Bepflanzungsordnung beschränkt den überbordenden Gestaltungswillen von Hinterbliebenen. Zur Architektur des Friedhofs gehören aber auch die Mülleimer, die Bänke und die Wasserstellen, die aus der Feder des Architekten stammen, wie Jürg Grassl mit den Detailplänen veranschaulichte. In der Planung immer schon vorgesehen war auch der angegliederte jüdische Friedhof mit 900 Gräbern, der aber erst 1931 realisiert wurde. Bis heute sind auf dem gesamten Friedhofsareal nur etwa ein Drittel der Gräber besetzt. Nicht jeder will sich in die Reihen der Gleichgewordenen einreihen oder sich ein Privatgrab für bis zu 25 000 Franken für 50 Jahre leisten. Heute verstreuen Angehörige die Asche ihrer Liebsten lieber völlig kostenlos unter einem Baum draussen in der wilden Natur. Doch so wird das Gesamtkunstwerk leider nie ganz fertig gebaut, die Friedhofsinsel bleibt bergseitig uferlos. Die einzigartige Magie des Ortes stört dies jedoch nicht, ganz im Gegensatz zur Kiesgrube/Deponie daneben, die den Waldfriedhof fast verschlingt.

Diario Giovanni Devoto: Milano-Davos 1942–1944.ISBN 9788862506830.

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