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«Leider dürfte die Dunkelziffer viel grösser sein»

Es gebe nur ganz wenige Meldungen von physischer Gewalt an Kindern im Kanton Glarus, sagt Hansueli Brunner, Präsident der Glarner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Aber es gebe wahrscheinlich eine grössere Dunkelziffer. Er erklärt, wie man vorgehen soll, wenn man Gewalt beobachtet.

Sebastian
Dürst
02.11.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
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Herr Brunner, wie viele Fälle von Gewalt an Kindern gibt es im Kanton Glarus pro Jahr?

Hansueli Brunner: Meldungen zu reiner physischer Gewalt gibt es nur sehr wenige. Es ist aber davon auszugehen, dass die Dunkelziffer leider grösser ist. Und bei praktisch allen Kindeswohlgefährdungen, die bei uns eingehen, ist eine Art von psychischer Gewalt im Spiel. Beispielsweise bei stark konflikthaften Eltern ist die psychische Integrität des Kindes stark gefährdet, da es einem ständigen Loyalitätskonflikt ausgesetzt ist.

Wie geht die Kesb vor, wenn sie eine entsprechende Meldung erhält?

Grundsätzlich eröffnen wir dann ein formelles Verfahren. Dann treten wir in Kontakt mit den Eltern und dem Kind, dem Umfeld, der Schule und anderen Bezugspersonen. Im besten Fall finden wir gemeinsam mit den Eltern eine Lösung, die das Kindeswohl gewährleistet.

Es gibt aber auch Fälle, in denen es eilt.

Richtig. Wenn wir eine Meldung erhalten, bei der Dringlichkeit gegeben ist, weil die aktuelle Situation nicht mehr ertragbar ist für das Kind, greifen wir sofort ein. Die detaillierten Abklärungen treffen wir im Nachhinein und überprüfen noch einmal die von uns getroffenen superprovisorischen oder vorsorglichen Massnahmen. Ganz grundsätzlich greifen wir nur ein, wenn die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung des Kindes gefährdet ist und die Eltern selber oder unter Beizug von Dritten nicht in der Lage sind, für eine nachhaltige Verbesserung zu sorgen. Wir wollen keine perfekte Gesellschaft erschaffen.

Angenommen, man beobachtet den Fall eines Kindes, das der eigenen Meinung nach nicht angemessen behandelt wird: Wie soll man vorgehen?

Grundsätzlich rate ich, für sich selbst ein Protokoll zu führen über die beobachteten Ereignisse. Und diese dann mit etwas Distanz nach dem Ampel- System Grün-Orange-Rot zu kategorisieren. Wenn sich abzeichnet, dass viele Aktionen im roten Bereich sind, sollte man wenn möglich mit den betroffenen Eltern selber sprechen. Häufig wird dieser Schritt übersprungen, denn das braucht Mut. In so einem Gespräch sollte man die Sorge um das Wohl des Kindes ins Zentrum stellen. Wenn ich mir selbst unsicher bin, ob eine Grenze überschritten wird oder nicht, gibt es gute Anlaufstellen, bei denen man sich informieren kann. Zum Beispiel bei der Sozialberatung der Sozialen Dienste, der Mütter- und Väterberatung oder bei der Jugend- und Familienbegleitung Joyning Glarnerland.

Und wenn man sich sicher ist, dass etwas Meldewürdiges geschieht, meldet man sich bei der Kesb?

Genau, wir sollten in diesem Ablauf die letzte Instanz sein. Dafür gibt es bei uns ein Meldeformular im Online-Schalter. Wichtig ist auch hier wieder: Wenn es nur Gefühle sind, die uns mitgeteilt werden, können wir damit wenig anfangen. Uns helfen Fakten: Was ist wo und wann genau passiert. Diese Meldung muss haltbare Indizien, Beobachtungen und Feststellungen beinhalten.

Es gibt aber auch dann noch eine Grauzone, ob es eine Meldung braucht oder nicht?

Genau. Bei physischer Gewalt ist das eher weniger der Fall. Aber es gibt häufig unscheinbare Fälle von Gewalt, die schwer einzuschätzen sind. Grundsätzlich gilt aber: lieber einmal eine Gefährdungsmeldung zu viel als eine zu wenig. Grundsätzlich sind auch anonyme Meldungen möglich, aber davon würde ich abraten. Meist sind Rückschlüsse möglich, wer die Meldung gemacht hat. Und damit öffnet man nur Tür und Tor für weitere Unsicherheiten und Anschuldigungen, die unter Umständen auf den Melder zurückfallen können.

Bleiben wir bei den Grauzonen: Wann ist etwas einfach eine andere Erziehungsmethode, wann eine Gefährdung des Kindeswohls?

Natürlich gelten die gleichen Rechte für alle Kinder. Geht es um Gewalt, sind die Regeln und die Gesetzesgrundlagen für alle gleich, egal ob das Kind aus einer Kultur stammt, bei der zum Beispiel Prügelstrafen als legitimes Erziehungsinstrument angesehen werden. Es gibt aber auch weichere Faktoren. Wenn zum Beispiel bei einer Familie aus dem afrikanischen Kulturkreis sehr viele Kinder im selben Zimmer schlafen, bedeutet dies nicht, dass automatisch eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.

Sebastian Dürst ist Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er ist in Glarus geboren und aufgewachsen. Nach Lehr- und Wanderjahren mit Stationen in Fribourg, Adelboden und Basel arbeitet er seit 2015 wieder in der Heimat. Er hat Religionswissenschaft und Geschichte studiert.

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